Im Auftrag verfasst, aber damals — im Januar 2020 — nicht veröffentlicht, kann der Text für Interessierte vielleicht die Finanzkrise etwas verständlicher machen.
Von Paul Huber
TEIL 1
Die Globale Finanzkrise der Jahre 2007/2008 liegt nun schon einige Zeit zurück, aber ihre Auswirkungen im wirtschaftlichen wie im politischen Bereich sind noch immer präsent und beschäftigen und beunruhigen uns weiterhin. Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze hat dazu ein bemerkenswertes Buch geschrieben.
Die Auswirkungen der Finanzkrise 2007/2008 sind bis heute zu spüren. Doch so gross die Bedeutung dieser Krise auch ist, wissen vermutlich oft nicht einmal Insider der Finanzwirtschaft so wirklich, was damals genau passierte. Genau dies, eine umfassende Darstellung der damaligen Ereignisse, liefert der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze in seinem ausgezeichneten Buch Crashed – How a Decade of Financial Crises Changed the World (2018). Dabei zeigt schon der Plural im Titel, dass Tooze die Finanzkrise nicht als ein auf den Zeitraum 2007–2008 beschränktes Ereignis betrachtet, sondern als eine Abfolge von mehreren verbundenen Krisen (einschliesslich der Euro-Krise), die sich über das folgende Jahrzehnt erstreckten und die er ebenfalls darstellt. Zuerst aber gibt Tooze eine kompetente Darstellung der Finanzkrise selbst, gestützt auf seine ausgezeichneten finanz- und währungspolitischen Kenntnisse.
Die Voraussetzungen der Krise
Entstehung und Verlauf der Finanzkrise waren nach Tooze durch das Zusammenwirken der folgenden Hauptelemente bestimmt: Erstens die Rolle des Dollars als Welt-Leitwährung und das grosse Volumen an weltweit verfügbaren Dollars, Resultat der jahrzehntelangen Leistungsbilanzdefizite der USA; zweitens die immense Ausweitung der internationalen Finanzströme, denominiert mehrheitlich in Dollar, eine Folge der Liberalisierung der Finanzmärkte, ihres Wachstums und ihrer zunehmenden internationalen Verflechtung; drittens die Herausbildung grosser Pools an Liquidität von institutionellen Anlegern (Versicherungen, Pensionskassen, grosse Vermögensverwalter, globale Unternehmen), wiederum mehrheitlich in Dollar gehalten; viertens der Trend zur «Verbriefung» («securitization») von Krediten, insbesondere von Immobilienkrediten, die aus den Bankbilanzen in spezielle Anlage-Vehikel überführt wurden, deren Anteile wiederum an Investoren verkauft wurden; und fünftens schliesslich die (mit der Securitization verbundene) übermässige Ausweitung des Markts für Subprime-Hypotheken in den USA.
Gemäss einem IMF Paper von Zoltan Poszar, das auch Tooze zitiert, lagen Ende der 1990er Jahre rund 1 Billion US-Dollar – also 1000 Milliarden! – in den Cash-Pools grosser institutioneller Investoren, und bis zur Finanzkrise verdoppelte sich diese Zahl gar. Diese Mittel konnten oder wollten die Investoren nicht in langfristige Papiere investieren; sie wollten sie aber auch nicht auf Bankkonti belassen, da sie dort durch die Limiten der Einlagenversicherung nicht geschützt waren.
Für die Anlage dieser Gelder kamen nur liquide und vor Verlust sichere Papiere in Frage, idealerweise also staatliche Wertpapiere. Im Markt waren jedoch Papiere des US-Schatzamtes oder ähnliche staatlich garantierte Papiere nicht in genügender Anzahl vorhanden, nicht zuletzt weil China in den Jahren vor der Finanzkrise seine Exportüberschüsse dazu verwendet hatte, riesige Volumina an solchen US-Titeln aufzukaufen. Als Alternative schienen sich Wertpapiere mit verbrieften Immobilienkrediten als sicheres Anlageinstrument anzubieten.
Subprime — der toxische Teil der «securitization»
Im Rahmen der «securitization» wurden Kreditforderungen gegenüber Hausbesitzern, Autokäufern oder Studienabgängern von den Banken an Anlage-Vehikel verkauft, die diesen Kauf ihrerseits finanzierten durch die Ausgabe von Wertpapieren (ABS, «asset backed securities»; oder MBS «mortgage-backed securities», wenn nur Immobilienkredite drin sind, was die Mehrheit ausmachte). Diese Wertpapiere wurden an Investoren abgegeben .
Doch die Spirale drehte noch weiter: MBS von Krediten unterschiedlicher Bonität wurden weiter verpackt in CMO’s («collateralized mortgage obligations»), manchmal über mehrere Stufen. Innerhalb solcher Ketten von Hypotheken-Portfolios stellten die Sub-Prime-Tranchen zwar nur einen Teil dar, während die grössten Tranchen Kredite von guter Bonität waren. Aber in der Krise vergifteten die Zweifel an den Subprime-Tranchen auch den ganzen Rest.
Das Wachstum im Sub-Prime-Markt war aufgrund falscher Anreize völlig aus dem Ruder gelaufen. Im Jahr 2007 belief sich gemäss Tooze das Volumen an ABS, an verbrieften Krediten aller Art (Immobilien‑, Studien‑, Kreditkarten‑, Autokredite) auf rund 5,2 Billionen Dollar. Davon entfielen auf das gefährlichste Segment der Subprime-Hypotheken 1,3 Billionen Dollar. Dies entsprach zwar «nur» einem Anteil von 12% des gesamten US-amerikanischen Immobilienmarktes, aber dieses Volumen war fast gänzlich innert der kurzen Zeitspanne seit 2003 geschaffen worden!
Es ist einer der Skandale der Finanzkrise, und eine ihrer Ursachen, dass die Rating-Agenturen den immer komplexeren Portfolios von verbrieften Immobilienkrediten in der Regel ein «Triple A»-Rating gaben, dank dem sie von Investoren als «sichere» Anlage betrachtet werden konnten.
Das grosse, komplizierte Rad der Kreditinstrumente im «shadow banking system»
Von den Banken wurden «special purpose vehicles» (SPV) geschaffen, die grossen Volumina an ABS/MBS oder an CMOs übernahmen und deren Kauf ihrerseits durch die Ausgabe von «asset-backed commercial papers» (ABCP, d.h. besicherte Schuldverschreibungen) finanzierten. Diese ABCP, abgegeben an institutionelle Investoren, hatten eine kurze Laufzeit (in der Regel 3 Monate). Damit wiesen die SPVs eine massive Fristeninkongruenz auf: die langfristigen Anlagen auf der Aktivseite waren auf der Passivseite finanziert durch kurzfristig laufende ABCP, deren stete Erneuerung notwendig war («roll-over»).
Die Banken hielten an den von ihnen geschaffenen SPV zwar einen Anteil, mussten diesen aber nur mit einem Bruchteil der Eigenmittel unterlegen, der beim Verbleib der Kredite in ihren eigenen Büchern erforderlich gewesen wäre (in der Regel 10%). Die Käufer der ABCPs setzten aber dennoch auf den hinter dem SPV stehenden Sponsor und hielten diesen als haftbar für die gesamten Verbindlichkeiten des SPV. Die Sponsor-Banken hielten zudem auch in ihren eigenen Büchern grosse Volumina von ABS/MBS bzw. CMOs, die sie ebenfalls über kurzfristige Mittel finanzierten.
Von der Gesamtsumme von 5,2 Billionen Dollar an ABS wurden 2,1 Billionen Dollar (d.h. etwas über 40%) von kurzfristig orientierten Anlegern gehalten, davon 1,2 Billionen via ABCP.
Wir wollen die Komplexität hier nicht noch zusätzlich erhöhen, es sei nur erwähnt, dass neben ABCPs auch Geldmarktfonds («money market funds») und Repo-Geschäfte zur kurzfristigen Anlage von «cash» dienten.
Die Billionen an liquiden Mitteln, die in all diesen kurzfristigen Anlageformen angelegt waren, lagen nicht bei Banken, dem traditionellen Ort zur Deponierung von liquiden Mitteln, sondern ausserhalb des Bankensystems – im «shadow banking system».
Europas Banken drehen mit am grossen Rad
Nicht nur amerikanische, sondern auch europäische Banken drehten mit am grossen Rad des Geschäfts mit verbrieften Immobilienkrediten in den USA. Der grosse Hub war London, aber auch kleinere Finanzplätze Europas spielten mit, darunter Dublin, Luxemburg, Belgien, die Niederlande und die Schweiz (hier vor allem die UBS). Im Jahr 2006, auf dem Höhepunkt des Booms der Immobilienverbriefungen, stammte ein Drittel der US-amerikanischen MBS von europäischen Banken, und europäische Banken waren die «Sponsors» von rund zwei Dritteln aller ABCP, einschliesslich von 57% der in Dollar denominierten ABCP (die etwas über 70% aller ABCP ausmachten).
Da europäische Banken keine nennenswerten eigenen Kundeneinlagen in US-Dollar hatten, mit denen sie dieses Geschäft hätten finanzieren können, besorgten auch sie sich die Dollars bei den institutionellen Liquiditäts-Pools, als kurzfristige Mittel.
Die Finanzkrise – eine Vertrauenskrise im Geldmarkt
2006 zeigten sich erste Probleme im US-Immobilienmarkt; die sich eintrübende Konjunktur bewirkte rückläufige Hauspreise und steigende Zahlungsausfälle, der Kurswert der MBS (CMOs sind hier immer mitzudenken) sank. Im Sommer 2007 schlugen die Probleme definitiv durch. Die Marktteilnehmer begannen an der Bonität der MBS zu zweifeln. Ohne Transparenz darüber, wo wieviel Subprime drin war, brach das Vertrauen in die MBS generell ein. Papiere im Betrag von Milliarden, ja Billionen Dollars, die als sicher gegolten hatten, wurden plötzlich als toxisch betrachtet. Und aus jenem Teil des Geldmarkts, der sich ausserhalb des Bankensystems befand, schlug der Vertrauensverlust zurück auf die Banken. Die Abwärtsspirale hatte begonnen.
Bei schwindendem Vertrauen führte die Fristen-Inkongruenz zu einer fatalen Kettenreaktion: Fand kein Roll-over statt und wurden die kurzfristigen Mittel abgezogen, führte dies zum Zwang, MBS-Papiere zu verkaufen, um die Investoren auszahlen zu können. Da aber gerade die sinkenden Kurse der MBS der Grund gewesen waren für das angeschlagene Vertrauen, fanden sich keine Käufer mehr für diese Titel, deren Kurs somit weiter in den Keller fiel, ja der Markt fror recht eigentlich ein. Angesichts der Entwertung ihrer Aktiven (der Immobilienkredite) und dem Schrumpfen ihrer Passiven (aufgrund der Geldabzüge der Anleger) wurden Banken wie auch SPVs (und rückwirkend wiederum deren haftbar gemachte Sponsor-Banken) schnell nicht nur illiquid, sondern überschuldet und insolvent. Aber auch den institutionellen Investoren, die ihre ABCP und ähnlichen Papiere nicht rechtzeitig hatten abstossen können, drohten riesige Verluste, wenn nicht der Totalverlust ihrer Gelder, mit weiteren schockartigen Rückwirkungen auf die Wirtschaft. Milliarden, ja Billionen an Geldern standen im Risiko. Dies erklärt auch die astronomischen Summen der Rettungspakete, welche die Zentralbanken und Regierungen in der Folge bereitstellen mussten, um einen totalen Zusammenbruch zu verhindern.
Nachdem erste Banken durch Zwangs-Fusionen oder Verstaatlichung gerettet worden waren, kam es im September 2008 zum Konkurs der Investmentbank Lehman Brothers. Damit waren die Dämme gebrochen. Jederzeit konnten eine oder mehrere weitere Banken in Konkurs gehen, das Vertrauen aller Marktteilnehmer war verschwunden, der Interbanken-Markt, in dem sich Banken für ihr Liquiditäts-Management kurzfristig gegenseitig Geld ausleihen, brach zusammen, die Banken deponierten ihre Liquidität lieber bei der Notenbank, als sie einer anderen Bank anzuvertrauen, wo die Mittel morgen schon in einem Bankrott verloren gehen und in der Konkursmasse verschwinden könnten.
Zentralbanken und Staaten als Retter
Die notwendige massive Zuführung von liquiden Mitteln konnte in diesem kritischen Moment nur durch die Notenbanken erfolgen, dem «lender of last resort». Das Geschäft aber, das hier in Frage stand, war in Dollars denominiert, und unbegrenzt Dollars liefern konnte nur das amerikanische Fed – was es auch tat, nicht nur an die US-Banken, sondern auch an die Banken in Europa, via die wichtigsten Zentralbanken (Swap-Linien des Fed bestanden u.a. mit der EZB, der Bank of England und der Schweizerischen Nationalbank). Auch wenn viele Europäer die Illusion hatten, die Subprime-Krise sei allein ein US-Problem, so sagt die Wirklichkeit etwas anderes. Das Fed wurde zum «lender of last resort» auch der europäischen Banken, ja des gesamten globalen Finanzsystems.
Das Fed handelte dabei keineswegs selbstlos. Hätten die europäischen Banken, um sich Dollars zu beschaffen, ihre Vermögenswerte in den USA abzustossen versucht, hätte dies zu einem weiteren Preiszerfall beigetragen und US-Banken ins Taumeln bringen können .
Das Fed konnte zwar unbegrenzte Liquidität in Dollars liefern, aber viele Banken mussten aufgrund ihrer Überschuldung gleichzeitig rekapitalisiert werden, um das vernichtete Eigenkapital zu ersetzen und ihren Konkurs zu verhindern. Private Anleger waren dazu nicht bereit. Hier sprangen die Staaten ein, indem sie direkt Aktionäre von Banken wurden (wie in der Schweiz bei der UBS), wobei viele Banken sogar zu 100% verstaatlicht werden mussten.
Zudem wurden die Banken entlastet, indem ihnen riesige Portfolios von Titeln, die im Moment unverkäuflich waren (zu welchem Preis auch immer), durch den Staat bzw. die Zentralbanken abgenommen wurden (auch dies gehörte in der Schweiz zum Rettungspaket für die UBS, wobei die Nationalbank diese Titel später mit Gewinn wieder verkaufen konnte, wie auch der Bund seine Aktienbeteiligung an der UBS später mit Gewinn wieder verkaufen konnte).
Mit Ironie und Sarkasmus weist Tooze hin auf das immense Paradox, dass eine Finanzwelt, die laufend das Mantra von der Effizienz der freien Märkte gesungen hatte, nur durch massive staatliche Aktionen und unter Aufbietung übermässiger Ressourcen gerettet werden konnte.
Ziel der kombinierten Rettungsmassnahmen war es, den Kollaps des globalen Finanzsystems und eine Depression à la Dreissiger Jahre – mit Firmenbankrotten, Massenarbeitslosigkeit, Deflation, usw. – zu vermeiden. Dies war gelungen, aber eine Rezession konnte nicht verhindert werden. Und in Europa erhielt die Rezession noch einen zusätzlichen Schub durch die nachfolgende Euro-Krise.
TEIL 2
Bankenrettung und Austerität. Politische und wirtschaftliche Bruchlinien während und nach der Finanzkrise.
Beim Amtsantritt der Regierung Obama anfangs 2009 war die eigentliche Finanzkrise durch die staatlichen Rettungsaktionen technisch weitgehend bewältigt. Ihre tiefgehenden Auswirkungen waren damit aber bei weitem noch nicht zu Ende. Auch diesen Teil ihrer Wirkung deckt der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze in seinem grossen Buch zur Globalen Finanzkrise («GFC») ab.
Die Finanzkrise war nach Tooze in ihrer Ausprägung und in ihrem Ablauf ein Produkt einer neuen Welt der internationalen Finanzströme, die nur noch wenig zu tun hatte mit der Finanzordnung, welche nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Bretton Woods-System geherrscht hatte. Damals hatten sich Zahlungsbilanz-Ungleichgewichte noch primär ergeben als Resultat der Handels- und Dienstleistungsbilanz eines Landes. Die internationalen Finanzströme waren stark begrenzt durch Kapitalverkehrskontrollen und andere Massnahmen, und sie waren in ihrer Richtung und in ihrem Volumen hauptsächlich bedingt durch die realwirtschaftlichen bzw. aussenwirtschaftlichen Entwicklungen.
Dies änderte sich in der Zeit nach dem Zusammenbrechen des Bretton Woods-Systems im Jahre 1971. Handels- und Dienstleistungsbilanz spielten in dieser Nach-Bretton Woods-Ära zwar noch immer eine Rolle, ihre Effekte aber wurden durch die Finanzströme massiv verstärkt. Und die Finanzströme bewegen sich teilweise auch unabhängig von realwirtschaftlichen Grössen.
Die GFC — eine «nordatlantische» Krise
Tooze nennt die Finanzkrise eine eigentlich «nordatlantische Krise». Die Krise brach zwar in den USA aus, aber Europa war stark involviert, nicht nur als unschuldiges Opfer, sondern als Mitbeteiligter. Die Rettungsmassnahmen wurden denn auch zwischen den führenden Staaten und Finanzzentren der USA und Europas orchestriert und koordiniert. Global war die Krise jedoch, weil sie in ihren Auswirkungen auch alle anderen Staaten und Kontinente betraf (eingehender beschreibt Tooze die induzierten Krisen, die Osteuropa und Russland heimsuchten).
Wo Tooze Kritik übt an den getroffenen Massnahmen, trifft diese vor allem die Institutionen in Europa, während er die Aktionen der US-amerikanischen Institutionen eher positiv sieht. Diese seien zwar auch krass zugunsten der Banken und zulasten der Beschäftigten und Hauseigentümer gegangen, aber sie seien in ihrer Wirkung zumindest effizient gewesen, um die Banken zu entschulden und die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Bei der Beschreibung der raschen und entschiedenen Reaktionen der Entscheidungsträger in den USA (v.a. Bernanke, Paulson, Geithner) kann Tooze manchmal seine sichtliche Bewunderung für die Kompetenz und das draufgängerische Handeln der führenden Personen nicht verbergen, während er die oft verzögerten und unentschiedenen Reaktionen der europäischen Politiker und Behörden (in der Regel «too little, too late») vielfach mit Ironie beschreibt.
Die USA besassen gut eingespielte, in ihrer Funktion und Kompetenz bewährte Institutionen, während in Europa die Entscheidungswege aufgrund des Fehlens einer bevollmächtigten zentralen Stelle und der Ungereimtheiten in der Konstruktion der erst neu gebildeten Währungsunion unklar und noch nicht eingespielt waren.
Die Finanzkrise und China
Tooze’s Beschreibung der Rettungsaktionen, bei denen oft innert Stunden oder Tagen Rettungspakete mit vormals als astronomisch empfundenen Beträgen ausgearbeitet, strukturiert und umgesetzt werden mussten, liest sich stellenweise wie ein rasanter Krimi voller Suspense und ist gespickt mit dramatischen Anekdoten und spannenden Hintergrund-Informationen. So bestand zum Beispiel in den USA während des Höhepunkts der Finanzkrise die Angst, dass China seine riesigen Bestände an amerikanischen Staatsanleihen auf den Markt werfen könnte, was zu deren weiteren Kurszerfall und zum totalen Zusammenbruch des US-amerikanischen Finanzsystems hätte führen können. Während Finanzminister Hank Paulson im Parlament, das sich zierte, tagelang um die Bewilligung der astronomischen Rettungs-Summen kämpfte, soll er jeden Tag seine chinesischen Kontaktpersonen am Telefon beruhigt haben, dies sei bloss das übliche politische Theater, die Bewilligung werde schon kommen, der Erhalt des Werts der von ihnen gehaltenen Papiere sei folglich gesichert.
Aber China half den westlichen Industrieländern nicht nur mit seinem Verzicht, durch das Abstossen der amerikanischen Schatzanleihen die USA und Europa noch weiter in die Krise zu stürzen: China trug vielmehr massgeblich dazu bei, einen weiteren Absturz der Konjunktur in den USA und in Europa zu verhindern, indem es seinerseits ein grosses Ausgabenprogramm lancierte, das die Exportindustrien der USA und Europas stützte. In Europa profitierte davon insbesondere auch die deutsche Exportwirtschaft (Autos und andere Güter), was sich Deutschland gerne als sein eigenes Verdienst als «Export-Weltmeister» anrechnete – und was in der Euro-Krise mit dazu beitrug, dass Deutschland mit Herablassung und Unverständnis auf die Probleme der südeuropäischen Länder blickte.
Von der Finanzkrise zur Euro-Krise 2009–2012
Die durch die Finanzkrise ausgelöste Rezession wirkte sich in Europa in einem Umfeld aus, das durch die vorangegangene Einführung des Euro geprägt war.
Die Einführung des Euro hatte im Euro-Raum zur Vernachlässigung von länderspezifischen Risiken geführt. Für die wirtschaftlich schwachen Euro-Länder bestanden dieselben günstigen Finanzierungskonditionen wie für die wirtschaftlich starken Länder, und da innerhalb des Euro-Raums auch das Wechselkursrisiko weggefallen war, kam es zu einem starken Anstieg der grenzüberschreitenden Finanzströme innerhalb des Euro-Raums, vor allem in Richtung der ärmeren Staaten. Dies hatte in Ländern wie Irland und in den südeuropäischen Ländern zu einem Boom geführt, der jedoch auf tönernen Füssen stand, da die Investitionen nicht immer in langfristig wirksame wirtschaftliche Projekte gingen, sondern zum Beispiel in Spanien in einen aufgeblähten Immobilienmarkt oder in Griechenland in erhöhte Ausgaben des Staates (und damit letztlich in erhöhte Konsumausgaben). Finanziert wurde dieser Boom zum einen durch die lokalen Banken, zum andern aber auch durch nordeuropäische Banken.
Auf tönernen Füssen – die europäischen Banken post-GFC
Während in den USA auf massiven Druck der Behörden die Banken rasch und resolut entschuldet und ihre Eigenmittel gestärkt worden waren, setzten die Europäer entsprechende Massnahmen zögerlicher durch (die Schweiz und ihre Rettung der UBS wird bei Tooze als Ausnahme erwähnt für ein frühes und beherztes Durchgreifen). Als Folge waren die Banken in Europa noch längst nicht wieder in robuster Form, als die Euro-Krise ausbrach, die im Grunde eine Staatsschuldenkrise war.
Nicht nur waren die europäischen Banken hinsichtlich ihrer Eigenmittel noch nicht voll gestärkt, sie waren auf der Passivseite auch weiterhin stark abhängig von kurzfristigen Mitteln, und auch ihre Ausleihungen hatten eine gefährliche Form angenommen. Tatsächlich hatten die Banken der Euro-Zone die reichliche Liquidität, die ihnen die EZB zur Verfügung gestellt hatte, ausgiebig für den Erwerb von Staatsanleihen der Euro-Länder genutzt. Diese Titel galten als risikofrei und mussten von den Banken mit keinen Eigenmitteln unterlegt werden, gleichgültig, ob es eine Anleihe von Griechenland war oder eine deutsche Staatsanleihe.
Damit hatte sich bei den Banken der Euro-Zone ein neuer Gefahrenherd aufgebaut: die Abhängigkeit von der Bonität der Staatsanleihen, die sie in ihren Büchern hielten – der sogenannte «doom loop». Jede Verschlechterung in der Bewertung der Staatsanleihen musste zu einer Wertverminderung der Aktiven in der Bankbilanz führen, was die Solidität der Banken, die sich noch kaum von der Finanzkrise erholt hatten, erneut bedrohte, und womit die Notwendigkeit neuer staatlicher Beihilfen drohte.
Die Euro-Krise – Staatsschulden und Austerität
Weltweit hatten die massiven staatlichen Eingriffe die öffentlichen Haushalte belastet, und noch war längst nicht klar, ob die eingesetzten öffentlichen Mittel voll wirken und je ganz zurückgewonnen würden (was später sowohl in der Schweiz wie in den USA zu mehr als 100% geschah, also mit einem Gewinn, aber sonst nicht in allen Ländern in gleicher Form). Umso aufgebrachter reagierte die öffentliche Meinung, als die ersten Fälle auftraten, wo Banken trotz ihrer massiven Verluste und staatlicher Beihilfen darauf bestanden, ihren Kadern einen Bonus auszahlen zu müssen, um sie nicht zu verlieren — während gleichzeitig Millionen Menschen unter der durch die Finanzkrise ausgelösten Rezession litten.
Immerhin etwas abgemildert wurden die sozialen Auswirkungen der Rezession durch die sogenannten «automatischen Stabilisatoren», die gesetzlich festgelegten sozialen Ausgaben wie Arbeitslosengelder und ähnliches (die es vergleichbar in den Dreissiger Jahren nicht gegeben hatte). Aber für die Betroffenen war die Rezession dennoch dramatisch.
In allen europäischen Ländern stieg die Staatsverschuldung infolge der Rettungsmassnahmen und der wirtschaftlichen Rezession (erhöhte Sozialausgaben, sinkende Steuereinnahmen), ja in einigen Ländern explodierte sie geradezu. Dies führte zu einem massiven Anstieg der Zinsen, welche diese Länder für neue Staatsanleihen zu zahlen hatten — wenn sie nicht schlicht gar keine Kredite mehr erhielten. Betroffen war zum Beispiel Irland. Das Land hatte die überschuldete Anglo Irish Bank im Jahre 2009 verstaatlicht, und Bank und Staat, beide überschuldet, waren nun im typischen «doom loop» gefangen und zogen sich gegenseitig in den Abgrund. Im Frühjahr 2010 wurden die Kosten für die Rekapitalisierung der Anglo Irish Bank auf 34 Mrd. Euro geschätzt, mehr als die gesamten Steuereinnahmen des Landes im Jahre 2010! In der Folge musste Irland die Kosten nicht alleine schultern, sondern erhielt Unterstützung von der EU und vom IMF, aber um den Preis eines drastischen Sanierungsprogramms, das dem Land aufgezwungen wurde.
Gleichzeitig ertönte aufgrund der zunehmenden Staatsverschuldung auch immer stärker der Ruf nach «Austerität», vor allem seitens der nordeuropäischen Euro-Länder, die Rettungspakete für notleidende Euro-Länder im Süden nur mit strengen Austeritäts-Auflagen akzeptierten.
Irland, Griechenland, Spanien und Portugal waren die Länder, die am meisten unter der Rezession «post-GFC» litten und deren Staatschulden eine untragbare Dimension angenommen hatten. Die tonangebenden Euro-Länder waren jedoch gegen einen teilweisen Schuldenerlass für Griechenland oder die anderen Länder, vordergründig aus Angst vor einer Schwächung oder gar einem Auseinanderbrechen des Euro, hintergründig aber auch aus Angst um die eigenen Banken, welche Anleihen der notleidenden Staaten in ihren Büchern hielten. Dies betraf vor allem die Banken Frankreichs, Deutschlands und der Niederlande.
Stattdessen wurden den überschuldeten Ländern aggressive Sparmassnahmen aufgebürdet, welche zu tiefen sozialen Verwerfungen führten. Zwar musste Griechenland später trotzdem ein Teilerlass der Schulden gewährt werden, aber die europäischen Banken wurden dabei geschützt, sofern sie die Zeit seit Beginn der Euro-Krise nicht eh schon genutzt hatten, um ihre Engagements in Griechenland abzubauen und sie unter anderem an die EZB weiter zu reichen (!).
Insgesamt urteilt Tooze vernichtend über die nach seiner Meinung falschen Entscheide in der Euro-Krise, die Millionen von Menschen in eine schlimme Rezession warfen – nach Tooze eines der schlimmsten selbst zugefügten wirtschaftlichen Desaster der Welt (siehe dazu auch einen früheren GdG-Text). Und die Tatsache, dass Griechenland, dessen Wirtschaft nur 1 bis 1,5% des Bruttosozialprodukts der EU ausmachte, zum Angelpunkt dieses Desasters wurde, verleiht der Geschichte Europas in seinen Augen einen Dreh zur bitteren Karikatur.
Tooze betrachtet die Finanzkrise als einen wichtigen Moment für den Niedergang Europas und für dessen zunehmende wirtschaftliche und geopolitische Marginalisierung in den sich herausbildenden neuen geostrategischen Realitäten. Ebenso sieht er die Finanzkrise und die entscheidende Rolle, die China darin als Stabilisator spielte, als wichtigen Moment für die neue Bedeutung Chinas in der Welt.
Die Zentralbanken post-GFC: wie weiter?
Tooze unterstreicht mehrmals die Richtigkeit der massiven Eingriffe der Notenbanken, einschliesslich der expansiven Geldpolitik («quantitative easing»), um eine noch tiefer gehende Rezession à la Dreissiger Jahre zu vermeiden. Aber schwer war die Rezession trotzdem, und aus ihr erklärt Tooze denn auch das Aufkommen populistischer Bewegungen in Europa und in Amerika, genährt durch die Unzufriedenheit breiter Schichten über die Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Lage.
Eine Prognose über die Zukunft darf man auch von einem brillanten Historiker nicht erwarten, wo doch schon professionelle Ökonomen und Wirtschaftsprognostiker diesbezüglich kläglich versagen. Aber als Leser stellt man sich zum Schluss dennoch die bange Frage, die beidseits des Atlantiks heute gestellt wird, nämlich wie die Notenbanken der USA und Europas aus ihrer expansiven Geldpolitik – mit der diesseits des Atlantiks ja auch die Negativzinspolitik verbunden ist — wieder herausfinden sollen. Man kann nur hoffen, dass sich hier nicht die nächste Krise aufbaut.