Ursprünglich erschienen auf der Online-Plattform “Geschichte der Gegenwart” am 24. Februar 2019
Ende des vergangenen Jahres erregte der Streit zwischen der EU und der italienischen Regierung über das Haushaltsdefizit für 2019 grosses Aufsehen. Der Konflikt wurde von manchen Beobachtern als Klippe betrachtet, an welcher nicht nur der Euro, sondern sogar die EU zerschellen könnten. Letztlich einigte man sich auf einen Kompromiss, der von beiden Seiten als Erfolg verkauft wurde, obwohl er weder die Probleme Italiens noch die Probleme des Euro – bzw. die ungelösten Probleme seiner politischen und institutionellen Ausgestaltung – lösen wird. Ein Erfolg war der Kompromiss jedoch auf jeden Fall für die beiden italienischen Regierungsparteien, die davon profitierten, die EU zum Einlenken gezwungen zu haben.
Profilierungspolitik
Matteo Salvini und Luigi Di Maio, die beiden Vize-Regierungschefs und Vertreter der Koalitions-Parteien Lega Nord und Movimento Cinque Stelle («M5S»), nutzten den Konflikt mit der EU als willkommene Gelegenheit zur Profilierung, indem sie die Rückweisung des Budgets durch die EU als Einmischung in die Kompetenzen der italienischen Regierung und als Verletzung der Souveränität Italiens darstellten. Vor allem Lega-Chef Matteo Salvini, Vize-Regierungschef und Innenminister, der schon die Flüchtlingsfrage dazu genutzt hatte, sein politisches Profil zu schärfen, nutzte auch den Budget-Konflikt, um sich im Streit mit der EU als starker Mann der Regierung zu profilieren.
Die Einsetzung der EU als Sündenbock erlaubte es den beiden Regierungsparteien zudem, ihre internen Differenzen zu überspielen. Tatsächlich war ihre Koalition keine Liebesheirat, sondern eine Vernunft-Ehe, die zwei Parteien den Weg zur Macht ebnete, die unterschiedliche und teils konkurrierende Programme und Interessen vertreten. Der vorgelegte Budget-Entwurf war nicht zuletzt die Kumulation der Wahlversprechen der beiden Parteien an ihre Klientel, ohne dass angesichts der begrenzten Mittel Prioritäten gesetzt worden wären, deren Aushandlung auch zu einem Bruch der instabilen Regierungskoalition hätte führen können – beide Parteien müssen ihrer Wählerschaft noch einige Resultate liefern, d.h. einige ihrer Wahlversprechen umsetzen, bevor sie sich den nächsten Wahlen stellen.
Die italienische Wachstumsschwäche
Gegenüber der Öffentlichkeit wurde die Erhöhung des Defizits natürlich nicht als Resultat der gegenseitigen Schonung dargestellt, sondern als durchdachte ökonomische Strategie, als ein Programm, das die Wirtschaft und damit das Wachstum ankurbeln werde, wodurch dank der steigenden Steuereinnahmen letztlich sogar eine Reduktion der Staatsschuld möglich werden solle. Diese Wachstumsprognose der Regierung wird jedoch nicht nur von der EU, sondern auch von den meisten anderen Beobachtern Italiens angezweifelt, nicht zuletzt aufgrund ähnlicher, nie erfüllter Versprechungen der Vorgänger-Regierungen, einschliesslich der Regierungen Berlusconis (damals auch teilweise mit Minderheits-Beteiligung der Lega Nord).
Auch in den vergangenen Jahren hat Italien bei steigender Staatsverschuldung (sie liegt heute bei ca. 130% des BIP) keine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage erlebt. Das BIP pro Kopf lag in Italien 2018 inflationsbereinigt 0,8% über jenem von 1999, während es in Frankreich 2018 um 16,9% und in Deutschland gar 28,7% höher lag als 1999 – ohne dass in diesen beiden Ländern die Staatsverschuldung auf italienisches Niveau gestiegen wäre.
Die Wachstumsschwäche Italiens hat konkrete soziale Auswirkungen, die dazu beitragen, dass die populistischen Parteien einen merklichen Zulauf haben: Zunehmende Stagnation, ja Verarmung des Mittelstandes, hartnäckige Arbeitslosigkeit, vor allem auch unter Jugendlichen, die sich in ihrer persönlichen Entwicklung gebremst sehen, bis hin zum Zwang, auch nach Abschluss der Ausbildung im Elternhaus wohnen zu bleiben und auf die Gründung einer Familie zu verzichten, da die finanzielle Selbständigkeit unerreichbar ist. Als einzige Alternative erscheint dann oft nur noch, auszuwandern (oder in die Politik zu gehen, könnte man sarkastisch beifügen).
Ohne Reformen, welche die im Vergleich zum restlichen Europa geringere Produktivität und Effizienz sowohl der Wirtschaft wie der öffentlichen Verwaltung Italiens korrigieren würden, wird die Ausweitung der Staatsausgaben kaum eine besseren Zukunft herbeiführen. Die nächste Budgetkrise – und damit auch die nächste Krise für den Euro und für die EU – scheint vorprogrammiert.
Die Lega Nord
Wenn die Lega Nord heute die Ehre Italiens gegen die EU zu verteidigen vorgibt, so ist es interessant, zurückzublicken, woher sie kommt. Gegründet von Umberto Bossi in der ersten Hälfte der 1980er Jahre als «Lega Lombarda» verband sich diese 1991 mit anderen Autonomiebewegungen Norditaliens (aus den Regionen Veneto, Piemont, Ligurien, Emilia-Romagna, Toskana) und wurde zur jetzigen Partei Lega Nord. In ihren Anfängen vertrat sie die weitgehende Föderalisierung Italiens, wobei teilweise auch die volle Abspaltung des – wirtschaftlich bessergestellten – Norditalien vom Süden Italiens gefordert wurde. Ihr Vorwurf lautete, dass der Norden vom Süden recht eigentlich ausgenommen werde, in Form der ständigen und vielfältigen Transferzahlungen vom Norden in den Süden, mit denen es sich die Bevölkerung im Süden bequem mache, ohne dass der Süden wirtschaftlich selbständig geworden sei.
In den Parlamentswahlen 2018 wurde die Lega im Norden Italiens die stärkste Kraft, während das M5S, vorher in ganz Italien ähnlich stark präsent, im Süden zur stärksten Kraft wurde. Paradoxerweise geht die Lega damit eine Koalition ein mit einer Partei, die (zumindest zurzeit) ihre grösste Machtbasis im früher geschmähten Süden hat. Salvini teilt heute sein Amt als Vize-Präsident der Regierung mit dem aus Neapel stammenden Luigi Di Maio. Und das «Bürger-Grundeinkommen», welches das M5S der Lega abgetrotzt hat, wird gemäss ersten Schätzungen vor allem Haushalten im Süden zugutekommen. Im Sinne ihrer alten Prinzipien verlangte die Lega (die nicht zuletzt auch die Interessen der norditalienischen Kleinunternehmer vertritt) immerhin, dass das Bürgereinkommen nicht bedingungslos vergeben werde, sondern nach Bedürftigkeit, und dass die Anreize nicht so gestaltet werden, dass das Einkommen von der Suche nach einer Beschäftigung abhalte und die Bequemlichkeit prämiere. Ansonsten hört man von Salvini aber wenig zum Thema wirtschaftliche Reformen. Seine Profilierung als starker Mann der Regierung dagegen scheint erfolgreich zu sein: Salvini konnte die Wählerbasis der Lega (das «Nord» wird heute meist weggelassen), die in der Parlamentswahl stimmenmässig hinter dem M5S zurückgelegen hatte, mittlerweile stark vergrössern und scheint sogar das M5S überholt zu haben, auch im Süden.
Die Lega war früher berühmt für Vorfälle an ihren Veranstaltungen, bei denen die italienische Nationalhymne und die italienische Nationalflagge, die Trikolore, verunglimpft wurden. Dieselbe Partei stellt heute den Innenminister des Landes und dieser spielt heute eher die nationalistische als die regionalistische Karte. Tatsächlich sind die Föderalisierung und die Anfeindung des italienischen Südens mittlerweile von anderen Themen überlagert worden. Die Feinde, gegen die sich die Lega unter Salvini heute abgrenzt, sind mittlerweile Menschen, die noch weiter aus dem Süden kommen: die Immigranten.
Polternder Populismus
Die polternde Art der Auseinandersetzung hat Salvini von seinem Vorgänger Bossi geerbt, sie scheint das Markenzeichen aller populistischen Bewegungen zu sein. Dabei wird auch das Zielen unter die Gürtellinie nicht vermieden. Berüchtigt ist zum Beispiel Bossis Ausruf an einer Veranstaltung: «La Lega Nord ce l’ha duro», was man ziemlich wörtlich übersetzen kann mit «die Lega Nord hat einen Steifen». Machismo und die Bewunderung für starke Führer beziehungsweise für autoritäre oder gar autokratische Regierungen gehören seit je dazu. Das übrige Europa war schockiert, als Bossi während des Kosovokriegs und der Nato-Bombardierung Serbiens dem serbischen Präsidenten Milošević einen Besuch abstattete. Von hier führt eine direkte Linie zur Bewunderung Salvinis für Putin. Salvini posierte in T‑Shirts mit Putin-Aufdruck, er besuchte die besetzte Krim, Vertreter der Lega Nord waren neben Vertretern anderer rechter Parteien unter den «Wahlbeobachtern», die auf Einladung Russlands die Wahlen auf der besetzten Krim überwachten, und die Lega unterzeichnete mit der hinter Putin stehenden Partei Einiges Russland 2017 ein Assoziierungsabkommen für fünf Jahre. In diesen Zusammenhang gehört auch, dass Salvini Viktor Orbán als sein Vorbild nennt.
In Sachen polternder Auseinandersetzung steht der Begründer des M5S, Giuseppe Grillo, dem Lega-Gründer Bossi und dem jetzigen Lega-Chef Salvini allerdings in nichts nach – und das M5S teilt auch Salvinis Haltung zu Russland und Putin. Das M5S ist vielleicht noch schillernder als die Lega. Es ist entstanden aus einer generellen Frustration weiter Schichten über die Politik und das politische Establishment Italiens, begleitet von einem generellen Misstrauen gegenüber Institutionen und von einer Sympathie für basisdemokratische Formen der Politik, die Online-Abstimmungen begrüsst und die Unerfahrenheit frischer politischer Talente rühmt.
Mittlerweile ist die Bewegung in lokalen und regionalen Parlamenten sowie im nationalen Parlament vertreten, sie stellt die Regierung einiger Städte, und sie ist Partner in der nationalen Regierung. Dabei wird die Abneigung gegen Institutionen und die Unerfahrenheit in öffentlichen Ämtern oft zum Problem. Dies zeigte sich etwa im reichlich inkompetenten Umgang der Römer Bürgermeisterin Virginia Raggi mit den kriminellen Strukturen rund um öffentliche Dienstleistungen in der Hauptstadt oder in gewissen ihrer Personalentscheidungen (wie der Ernennung eines der Korruption angeklagten Strippenziehers im Immobilienbereich zum Berater und Personalchef sowie dessen Bruders zum Leiter des Tourismus-Sektors). Die Unerfahrenheit zeigt sich vor allem prominent beim Vize-Regierungschef Luigi Di Maio, der als politisches Talent sichtlich hinter dem beschlagenen Matteo Salvini zurücksteht, der zuvor bereits in der Mailänder Politik und im italienischen Abgeordnetenhaus sowie im Europa-Parlament Erfahrungen gesammelt hatte. In seinem Amt als Arbeitsminister, das er neben dem Amt als Vize-Regierungschef bekleidet, ist Di Maio bisher nicht durch Initiativen aufgefallen, welche die Schaffung von Arbeitsplätzen begünstigen, sondern vor allem durch die Anstrengung zur Durchsetzung des Bürger-Grundeinkommens für die nicht oder prekär Arbeitstätigen.
Wohin geht Italien?
Entgegen den basisdemokratischen Bekenntnissen des M5S erkennt man bei seinen Führern immer wieder auch eine Tendenz zum Autoritären, wobei sie sich wie alle Populisten gerne auf den Willen des Volkes berufen, das sie gewählt hat. Diese Haltung teilt das M5S mit der Lega. Unter Berufung auf ein Recht der Regierung, ihre Vorhaben umzusetzen, wurden von den Koalitionsparteien schon zahlreiche Institutionen oder deren gegenwärtige Führungspersonen, die sich den Vorhaben der Regierung entgegenstellten, angegriffen oder verunglimpft: der Staatspräsident, die Gerichte, der staatliche Rechnungshof, der Leiter der italienischen Sozialversicherungsanstalt, neuerdings die Banca d’Italia. Unter dem Deckmantel der Kritik an den alten Eliten, die angeblich für die Probleme Italiens verantwortlich seien (war die Lega nicht auch selbst schon in der Regierungsverantwortung?), wird an den Bastionen der Demokratie gerüttelt.
Gut möglich, dass die Koalition, in deren Gebälk es immer wieder knarrt und kracht, in absehbarer Zeit auseinanderbricht, wobei im Moment eine Stärkung der Lega bei den nächsten Wahlen wahrscheinlich scheint. Eine Koalition der Lega mit Parteien der Rechten wäre dann nicht ausgeschlossen. Salvini hat keine Berührungsängste gegenüber Gruppen der extremen Rechten, von der Partei «Fratelli d’Italia» bis zur «Casa Pound» und anderen Formationen. Würde Salvini dann gemäss seinem Vorbild Orbán auch Italien in eine illiberale Demokratie zu wandeln versuchen? Würden die italienischen Institutionen einem solchen Angriff standhalten? Der EU jedenfalls würden sich damit noch ganz andere Probleme stellen als ein neuer Budgetkonflikt und eine neue Euro-Krise. Das Erodieren der Demokratie in einem Land, das Gründungsmitglied der EU war, würde die Substanz des demokratischen Selbstverständnisses der EU in Frage stellen.