Neue Zürcher Zeitung, 28. Juni 1995
Veränderte Qualitäten des Geldes
Facettenreiche Entwicklungstendenzen bei den Zahlungsmitteln
Von Paul Huber
Die Fortschritte der Informationstechnologie und der scharfe Wettbewerb unter den Banken begünstigten in den letzten Jahren die Elektronisierung des Zahlungsverkehrs. Zur Reduktion der Kosten wird aber auch im Detailhandel nach Wegen gesucht, Bargeld durch elektronische Zahlungsformen zu ersetzen. Die Vision einer «cashless society» dürfte sich trotz der rasanten Entwicklung vorerst indessen kaum verwirklichen lassen.
Die Vielfalt der Phänomene, die heute unter dem Begriff des elektronischen Geldes summiert werden, ist gross und anfänglich verwirrend: Konsumentinnen und Konsumenten bezahlen in Geschäften und Tankstellen mit Kredit- oder Debitkarten, Chip Cards, und intelligente Lesegeräte sollen in naher Zukunft völlig neue Formen der elektronischen Transaktion ermöglichen; an den Finanzmärkten werden mit Hilfe von Computern immense Beträge innert Sekundenschnelle über die ganze Welt verschoben, und in der Presse zirkulieren Artikel über den «Super Highway» oder das «Internet», wo neue Geldformen und Währungen die Geldpolitik der Notenbanken unterlaufen sollen. Grundsätzlich kann man aber schon an diesem Punkt festhalten, dass es sich beim elektronischen Geld um keine substantiell neue Form des Geldes handelt, sondern um die elektronische Form der Abwicklung bargeldloser Zahlungen. Gleichzeitig hat aber die Elektronisierung den Charakter von Zahlungen und Zahlungsverkehrssystemen in einer Weise verändert und neue Möglichkeiten der Zahlungsbeziehungen und Geldverwendung eröffnet, dass es sich dennoch aufdrängt, von einer qualitativ neuen Form des Geldes zu sprechen.
Das Zahlen als Informationsaustausch
Der volkswirtschaftliche Nutzen eines einheitlichen Austauschmediums, des Geldes, ist eines der Hauptargumente für die Begründung des Emissionsmonopols der Zentralbanken sowie für deren begleitende Aufgaben, die Solidität der Währung und die Effizienz des Zahlungsverkehrssystems zu garantieren. Effizienz heisst auch Kosteneffizienz, die Abwicklung des Zahlungsverkehrs zu den kostengünstigsten Bedingungen. Insgesamt wird geschätzt, dass sich die Kosten des Zahlungsverkehrs auf zwischen 1 und 3 Prozent des Bruttosozialprodukts belaufen, einschliesslich der Kosten des Bargeld-Zahlungsverkehrs.
Der überwiegende Teil der Liquidität der privaten Haushalte und Unternehmen wird auf Depositenkonten bei einlagenehmenden Instituten, d.h. bei Banken, gehalten. Um die auf Einlagekonten gehaltene Liquidität in derselben Art wie Bargeld zu Zahlungszwecken verwenden zu können, müssen die Banken den universellen Zahlungsaustausch untereinander ermöglichen. Anstelle des bilateralen Zahlungsaustauschs geschieht dies in der Regel aus Effizienzgründen über eine zentrale Clearingstelle, wo alle Zahlungen «sortiert» und an die Bestimmungsbanken weitergeleitet werden. Dabei werden alle ein- und ausgehenden Zahlungen miteinander verrechnet und für jede Bank auf einen Nettosaldo reduziert. Da der Saldenausgleich am Tagesende (das «settlement») in der Regel über die Konten erfolgt, welche die Banken bei der Zentralbank unterhalten (d. h. in Zentralbankgeld), entfällt das Gegenparteirisiko. Mit der Abwicklung über Zentralbankkonten wickelt sich der Zahlungsverkehr gleichzeitig über jenen Bereich ab, in dem die Zentralbank ihre Geldpolitik implementiert.
Aus dem oben Gesagten wird klar, dass sich der wesentliche Teil der Abwicklung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs — der Übertrag des Eigentums an einem bestimmten Geldbetrag vom Konto des Zahlenden auf das Konto des Zahlungsempfängers — zwischen den kontenführenden Banken abspielt, d. h. im lnterbank-Zahlungsverkehrssystem. Zwischen dem Kunden und der Bank findet bei der bargeldlosen Zahlung kein neuer Eigentumsübertrag statt (soweit der Kunde nicht am Schalter Bargeld einbezahlt oder bezieht), sondern nur noch ein Informationsaustausch: der Kunde sendet seiner Bank Dispositionsaufträge (Zahlungsaufträge), bzw. er erhält die Information über die ihm gutgeschriebenen Beträge.
Auch bei Kartenzahlungen spielt sich der wesentliche Teil der Abwicklung zwischen den kontenführenden Banken ab, führt doch die Zahlung letztlich ebenfalls zu einer Gutschrift auf dem Konto des Empfängers und zu einer Belastung auf dem Konto des Zahlenden, wenn dieser seine Kartenschuld begleicht (es sei denn, er begleiche seine Schuld durch Bareinzahlung).
Technologie und Wettbewerb
Die Ausbreitung der elektronischen Zahlungsabwicklung ging — und geht — einher mit den Entwicklungen in den Computer- und Kommunikationstechnologien (den «information technologies»). Die elektronische Datenverarbeitung und die Möglichkeit, Datenverarbeitungssysteme über Telekommunikationsleitungen zu vernetzen, schaffen die Voraussetzungen für ein «elektronisches Kontinuum», in dem Daten und Informationen — und damit auch Zahlungsinformationen — ohne Neuerfassung bruchlos verarbeitet und weitergeleitet werden können. Die kontinuierliche Leistungssteigerung der Informationstechnologien bei gleichzeitig abnehmendem Preis pro Leistungseinheit macht dabei stets neue Anwendungen auch ökonomisch machbar. Generell lässt sich sagen, dass sich die Elektronisierung des Zahlungsverkehrs von der bankinternen Zahlungsverarbeitung (Intra-Bank) und der Zahlungsabwicklung zwischen den Banken (Interbank-Bereich) ausbreitete, um immer mehr auch die Kommunikation zwischen Bank und Kunde zu umfassen. Gleichzeitig ging die Entwicklung von den Grossbetragszahlungen und dem Massenzahlungsverkehr hin zu den Kartenzahlungen.
In den Banken trat die automatisierte elektronische Verarbeitung an die Stelle der personal- und kostenintensiven manuellen Verarbeitung. Nur dank der elektronischen Datenverarbeitung war es möglich, die wachsenden Volumina im Massenzahlungsverkehr (Überweisungsverkehr) überhaupt zu bewältigen. Ein anhaltender Druck zur Automatisierung geht heute auch von der durch die Liberalisierung im Bank- und Finanzbereich bewirkten zunehmenden Konkurrenz und der daraus folgenden Margenerosion aus.
Die Elektronisierung des Zahlungsverkehrs trägt ihrerseits zur Margenerosion bei, führt doch die Verkürzung der Abwicklungszeit dazu, dass der «Float», d. h. der Zinsgewinn aus der Verweilzeit der Mittel bei den abwickelnden Banken, sich reduziert oder sogar verschwindet. Die elektronische Abwicklung ermöglicht im Prinzip, den Zahlungsbetrag an demselben Tag dem Konto des Zahlenden zu belasten und dem Konto des Empfängers gutzuschreiben («same-day-value»). Auch im Zahlungsverkehr für Retail-Kunden bieten in der Schweiz heute bereits zahlreiche Banken die gleichtägige Valutastellung an.
Geforderte Notenbanken
Eine spezielle Entwicklung haben die letzten Jahre im Bereich der Grossbetragszahlungen gebracht. Im Rahmen der Internationalisierung der Finanzmärkte, die wesentlich mit angetrieben wurde durch die Möglichkeiten der modernen «information technologies», haben sich auch die Volumina der national und international abgewickelten Finanztransaktionen, mit den entsprechenden Zahlungen, explosiv vermehrt. Wie im Zahlungsverkehr insgesamt, aber spürbarer als bei dessen anderen Formen, hat die Elektronisierung hier eine Schrumpfung der Distanzen und eine Verkürzung der Abwicklungszeit bewirkt, was zu einer massiven Konzentration der Risiken geführt hat. Die Risiken, die mit diesen Systemen, die in einer Multi-Währungs- und Multi-Zeitzonen-Welt operieren, verbunden sind, beschäftigen die Zentralbanken seit einiger Zeit und haben sie zu einer entsprechenden weltweiten Koordination ihrer Überwachungs- und Aufsichtsfunktionen geführt.
Die Möglichkeit der Echtzeit-Abwicklung erlaubt es den teilnehmenden Banken, denselben Geldbetrag mehrmals während des Tages zu Zahlungstransaktionen zu verwenden (während früher in der Regel das Tagesend-Settlement abgewartet werden musste). Das Volumen der während des Tages getauschten elektronischen Zahlungen beläuft sich damit auf ein Vielfaches des Settlement-Betrages am Tagesende. Gegenüber der papiergebundenen Abwicklung hat sich damit die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes massiv erhöht. Die amerikanische Autorin Ellinor Harris Solomon vermutet in dieser Erhöhung der Umlaufgeschwindigkeit, neben den konjunkturellen Einflüssen, eine der wesentlichen, wenn auch empirisch noch nicht genügend erforschten Ursachen dafür, dass die US-Notenbank ihre Geldmengenziele in den vergangenen Jahren nicht mehr erreichen konnte.
Abschied vom Bargeld?
Wie bei den Überweisungszahlungen erlaubte die Elektronisierung auch bei den Kartenzahlungen die Ablösung der traditionell papiergebundenen Zahlungsabwicklung und die Automatisierung der bisherigen personal- und kostenintensiven manuellen Verarbeitung. Gleichzeitig hat sie neue Zahlungsformen ermöglicht, wie zum Beispiel die Debitkarte. Bei dieser wird die Zahlungsinformation bereits am Kassenterminal elektronisch erfasst und die Zahlung darauf automatisch weiterverarbeitet, d. h. dem Konto des Kunden belastet und dem Konto des Detailhändlers gutgeschrieben. Aber auch bei den Kreditkarten wird zunehmend zur elektronischen Abwicklung und zur Ablösung der Papierbelege aus der «Ritsch-Ratsch»-Maschine übergegangen.
Bei der Kreditkarte bedeutet die elektronische Abwicklung einfach die Ersetzung der bisherigen papiergebundenen Verarbeitung durch eine effizientere, kostengünstigere und sicherere Form der Verarbeitung. Dagegen stellt die Debitkarte eine eigentliche Neuerung dar, indem sie tendenziell bisher in bar abgewickelte Zahlungen ersetzt. Für die Bank hat dies den Vorteil, dass die Mittel bis zum Tag des Kaufentscheids des Kunden auf seinem Konto bleiben und ihr für ihr Aktivgeschäft zur Verfügung stehen. Bank wie Kunde profitieren dabei vom Zinsertrag, der bei der Liquiditätshaltung in Bargeld wegfallen würde. Für die Bank wie für den Detailhändler entfällt das Bargeld-Handling (der Gang zur Nachtkasse). was für letzteren auch eine erhöhte Sicherheit bedeutet. Insgesamt verlassen die Mittel nie den Bankenkreislauf, was im Interesse aller am System teilnehmenden Banken liegt.
Ähnliche Überlegungen stehen hinter den Vorschlägen zur Einführung von Wertspeicherkarten («electronic purse») vor allem für Kleinstbetragszahlungen, wobei zum Beispiel beim Einkauf Portionen des geladenen Betrages vom Ladenbesitzer abgerufen und auf seine Kasse hinüber geladen würden. Die Karte wäre bei der Bank — zum Beispiel an Geldausgabeautomaten — wieder aufladbar. Debitkarten wie Wertspeicherkarten, beide gerne als «electronic money» bezeichnet, stellen dabei keine neue Form von Geld dar, sondern nur eine erweiterte Möglichkeit zur Nutzung der auf Einlagekonten gehaltenen Liquidität zu Zahlungszwecken. Aus der Optik der Zentralbanken handelt es sich um eine einfache Ersetzung von Bargeld durch Giralgeld. Die in Frage stehenden Beträge sind — zumindest bis auf weiteres — zudem zweifellos zu klein, als dass sie die Zentralbanken in ihrer Geldpolitik ernsthaft beeinträchtigen. Schliesslich gilt festzuhalten, dass die Zentralbank-Gouverneure der EU-Staaten bereits die Forderung aufgestellt haben, dass universell nutzbare Wertspeicherkarten (also nicht nur bei ihrem Verkäufer gegen Dienstleistungen einlösbare Karten, wie z.B. die Telefonkarte) nur von einlagenehmenden Instituten, die einer Bankenaufsicht unterstehen, ausgegeben werden dürfen. Dies zur Sicherung des Vertrauens der Bevölkerung in die Solidität der Währung.
Geldphantasien im «Internet»
Für fette Schlagzeilen sorgten in letzter Zeit das «electronic money» auf dem «Internet» und die dort entstehenden Transaktionsmöglichkeiten. Die grundlegende Idee — stark vereinfacht — ist unter anderem die, dass die Bezahlung von über «Internet» bezogenen Dienstleistungen in bestimmten Einheiten einer Art Bons, z. B. dem «NetCash», soll erfolgen können. «NetCash» ist an keine reale Währung gebunden und kann somit für grenzüberschreitende Transaktionen benutzt werden. Durch den Verkauf eigener Dienstleistungen kann der Einzelne seinen eigenen Vorrat an «NetCash» oder an einer der anderen «virtuellen» Währungen wieder aufstocken. Eine zentrale Stelle autorisiert die «NetCash»-Zahlungen und bestätigt, dass der Zahlende über entsprechende Einheiten verfügt.
Solange das neue elektronische Zahlungsmittel von einer Gruppe von Personen gebraucht wird, die alle auch tatsächlich Dienstleistungen zu verkaufen haben, könnte das System tatsächlich als eigene Währung funktionieren. Beizufügen wäre aber, dass dies dann nicht eine vollkommen neue Form der Währung wäre, zumal es als eine elektronische Form der schweizerischen WIR-Bons aufgefasst werden könnte, mit dem Unterschied, dass es die Grenzen eines einzelnen Währungsraumes überschreitet.
Sobald jedoch jemand keine Dienstleistungen zu verkaufen hat, sondern nur als Kunde auftritt, wird er zur Begleichung seiner Schulden in irgendeiner Form Liquidität in das System einschiessen müssen, sei es mittels einer Kreditkartenzahlung oder in sonst einer Zahlungsart. Und auch der Betreiber des Systems oder die kommerziellen Anbieter von Dienstleistungen werden ihre Gewinne zu irgendeinem Zeitpunkt realisieren wollen, ihre «NetCash»-Einheiten also gegen eine reale Währung eintauschen wollen. Würden die Beträge sehr gross werden, so könnte unter Umständen auch eine Abwicklung über Zentralbankkonten in einer der Währungen notwendig werden. Das System kann also nicht abseits jeder realen Währung funktionieren, und vermutlich würde es für das «NetCash» bald eine entsprechende Tabelle der Umrechnungskurse geben. Der erste massive Ausfall eines Partners — oder auch bewusster Missbrauch und Betrug (gefördert durch die Anonymität des «Internet», von der auch der pornographische und antisemitische Unrat auf dem «Internet» profitiert) — würde zudem wohl schnell zu einem Vertrauensverlust für das «NetCash» führen — und zu einer entsprechenden Regulierungsaktivität der Zentralbanken.
Im Falle der Netzwerke dürfte das heutige Volumen der Zahlungen die Zentralbanken bis auf weiteres also kaum beunruhigen. Sollte dagegen ein Grossteil des Zahlungsverkehrs auf das «Internet» abwandern, würden die Währungshüter zweifellos nicht untätig bleiben, ebensowenig wie die Geschäftsbanken oder die Kartenorganisationen selbst. Dennoch, das «electronic cash» auf dem «Internet» stellt eine interessante Neuerung dar und belegt die dauernde Innovativität, die der Mensch zeit seines Existierens in der Erfindung neuer Zahlungsmittel bewiesen hat.