Basler Zeitung, 31. Dezember 1982
Adolf Portmanns Bild vom Menschen
«Portmann hat auch einer heutigen Zeit noch viel zu sagen.» Gegen Ende seines Lebens sah sich der berühmte Basler Biologe mit wachsenden Tendenzen zum manipulativen Eingriff in die natürliche Umwelt und in das Erbgut des Menschen konfrontiert, gegen die er engagiert Stellung nahm. Das macht seine Aktualität aus. Statt technischer Möglichkeiten des Eingriffs in die Zusammenhänge des Lebendigen entwickelte er in einer Haltung der Ehrfurcht und auf der Basis strenger Wissenschaftlichkeit bahnbrechende Einsichten in die Botschaft unversehrter Lebewesen.
Von Paul Huber
Nach mehrmonatiger schmerzhafter Krankheit, während der ihn seine letzte Lebensgefährtin Marianne New aufopfernd gepflegt hatte, starb im vergangenen Sommer, am 28. Juni, der Basler Biologe Adolf Portmann — ein Wissenschafter, der weit über die engeren Grenzen seines Faches wie auch seines Geburts- und Wirkungsortes Basel hinaus bekannt geworden war und gewirkt hatte.
Portmann war ein Biologe, dem der Blickwinkel eines begrenzten Spezialistentums stets fremd geblieben war und der zeitlebens gesucht hatte, eine reduktionistische, einzig auf die Erforschung und Beschreibung chemisch-physikalischer Prozesse sowie auf deren technische Beherrschung gerichtete Auffassung der Naturforschung zu überwinden und zu einem umfassenden Verständnis des Lebendigen zu gelangen. Er war sich der Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und Welterklärung durchaus bewusst; dennoch blieb er fest verankert auf dem Boden der Wissenschaften, deren Erkenntnisse nach ihm die Grundlage unseres Denkens bilden mussten, wollte man nicht der reinen Spekulation verfallen. Die wissenschaftliche Welterklärung war für Portmann gültig, soweit immer die wissenschaftliche Erkenntnis reichte oder soweit immer die Grenzen dieser Erkenntnis noch erweitert werden konnten.
Aber neben diesem, der Wissenschaft vielleicht in Zukunft zugänglichen «Problembereich» blieb nach seiner Überzeugung ein «Geheimnisbereich», der der Wissenschaft stets verschlossen bleiben würde — denn Portmann war der Meinung, dass das Leben in seinem Gesamten immer mehr ist als das, was eine bestimmte Zeit mit allen ihren rationalen Kräften von ihm in diesem Augenblick auszusagen vermag. Die Grundlage unseres Daseins ist «ausserwissenschaftlich». Portmann sprach vom «Geheimnisgrund des um uns waltenden und uns durchpulsenden Lebens» und, in Anlehnung an Heidegger, vom «verborgenen Sein». Die Natur aber war ihm Zeuge dieses verborgenen Seins, sie war für ihn, eine Formulierung Goethes aufnehmend, «das offenbare Geheimnis», dem sich der Naturforscher ahnend näherte: «Das Erforschen der höchsten Ordnungen, die unsere Sinne erleben dürfen und die unser Geist noch durchdringt — solches Erfahren der irdischen Lebensformen wird dem wahrhaft Wissenden zum Gleichnis für das ewig Verborgene.» Mit der Einsicht in die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis und mit dem Wissen um das hinter allem Erforschbaren verbleibende Geheimnis verband sich bei Portmann eine Haltung der tiefen Ehrfurcht vor den lebendigen Organismen und vor den vielfältigen Formen und Gestalten der Natur.
Diese Naturphilosophie Portmanns mag in der Nähe einer religiösen Grundhaltung zu stehen scheinen, ist aber von dieser doch durch Wesentliches getrennt, nicht zuletzt durch die Unaustauschbarkeit der Begriffe «Sein» und «Gott». Von der Wirklichkeit des Seins wissen wir durch unsere eigene Existenz, von Gott oder einem Jenseits aber können wir nichts wissen; dies bleibt beschlossen in dem unergründlichen Geheimnis. Bei dieser Ansicht scheint Portmann, bei all seiner Annäherung an und seinem Verständnis für religiöse Anschauungen, bis zu seinem Lebensende geblieben zu sein.
Portmanns Naturforschung ging von den lebendigen Formen und Gestalten aus und kehrte auch immer wieder zu diesen zurück. Bei Streifzügen am Rheinufer und auf Spaziergängen mit seinem Vater im Wiesental erhielt Portmann, wie er sich später erinnerte, seine ersten tiefen und fortwirkenden Eindrücke von den vielfältigen Formen und Gestalten der Pflanzen- und Tierwelt. Auch in der Folge verlor er bei aller forschenden Zerlegung der Natur in ihre kleinsten und unsichtbaren Teile und Strukturen nie die Fähigkeit, von den sichtbaren und unversehrten Formen und Gestalten des Lebendigen in ihrer sinnlichen Unmittelbarkeit berührt und ergriffen zu werden.
Der wissenschaftliche Werdegang
Dies ist zweifellos auch auf seine grosse künstlerische Sensibilität — welche von einem eindrücklichen zeichnerischen Talent begleitet war — zurückzuführen; vor allem aber ist es Ausdruck der in letzter Konsequenz auf die lebendigen Organismen, und nicht auf die von ihrer Untersuchung übrigbleibenden toten Substrate, konzentrierten Naturforschung und Naturauffassung Portmanns.
Adolf Portmann wurde geboren am 27. Mai 1897 in Basel, und zwar im Kleinbasel, wo er auch aufwuchs. Er stammte aus bescheidenen Verhältnissen — sein Vater war einfacher Angestellter bei den Basler Strassenbahnen. 1916, nach der Maturität am Realgymnasium, schrieb er sich an der Universität ein, konnte aber aufgrund der Beanspruchung durch Militär- und Aktivdienst mit dem Studium der Zoologie erst 1918 wirklich voll einsetzen. Bereits 1921 promovierte Portmann bei Professor Friedrich Zschokke summa cum laude mit einer vergleichenden Arbeit über das Verhalten der Libellen in der Umgebung von Basel. Es ist dies ein frühes Beispiel der in der Biologie dieses Jahrhunderts später zu grosser Bedeutung gelangten vergleichenden, stammesgeschichtlich orientierten Verhaltensforschung — eine Forschungsrichtung, mit deren Ansatz sich Portmann stets in enger Übereinstimmung fand.
Die nun folgenden «Wanderjahre» führten den jungen Forscher an verschiedene Universitäten Europas (Genf, München, Berlin, Paris), aber auch in die Meeresforschungsstationen auf Helgoland und in Roscoff in der Bretagne. Die hier entdeckte Welt der Meerestiere bildete in den nächsten Jahren den Gegenstand von Portmanns wissenschaftlicher Forschung. 1924 nach Basel zurückgekehrt, konnte Portmann dank der überraschenden Unterstützung eines Gönners (der stets anonym bleiben wollte) seine Forschungsprojekte umgehend in die Tat umsetzen. Im Dezember 1924 brach er auf in das Laboratoire Arago, die Meeresforschungsstation in Banyuls-sur-mer in Südfrankreich, nahe der spanischen Grenze, wo er in den folgenden drei Jahren forschte, wann immer es ihm die Beanspruchung durch den Lehrbetrieb erlaubte — denn 1925 war er in Basel zum ersten Assistenten,1926 nach der Habilitation zum Privatdozenten geworden. In Vertretung des schwer erkrankten Professors Zschokke, und auf dessen Bitten hin, übernahm Portmann von 1928 bis 1931 die Leitung des Zoologischen Instituts. Nach Zschokkes Emeritierung wurde Portmann 1931 auch offiziell zum Nachfolger ernannt, zuerst als ausserordentlicher, ab 1933 als ordentlicher Professor. Bis zu seiner eigenen Emeritierung im Jahre 1968 hatte er nun die Leitung des Zoologischen Instituts am Rheinsprung inne. lns Jahr 1931 fiel übrigens auch Portmanns Heirat mit Geneviève Devillers aus Paris, die er in Südfrankreich kennengelernt hatte.
Auf die meeresbiologischen Forschungen folgten ab 1928 in Portmanns wissenschaftlichem Werdegang nunmehr Forschungen zur Entwicklungsgeschichte der Vögel, insbesondere Untersuchungen über die Wachstums- und Reifevorgänge im Ei und nach dem Schlüpfen sowie über Feder und Federkleid. Neben den Untersuchungen zur Ontogenese der Vögel traten bald auch Untersuchungen zur Ontogenese der Säugetiere. Dabei konzentrierte sich Portmanns Aufmerksamkeit immer mehr auf das Gehirn, auf dessen Entwicklung und auf die Proportionen seiner Teile.
Das Verhältnis zwischen der Masse des Hirnstamms (das heisst des vor allem mit den elementaren, vegetativen Lebensfunktionen verbundenen Hirnteils) und der Masse des Grosshirns (welches vor allem die Beziehungen zur Umgebung vermittelt) lässt sich in einem für alle Arten unter den Lebewesen je spezifischen Index ausdrücken. lm Vergleich miteinander spiegeln diese Grosshirnindizes mit der jeweiligen Bedeutung des Grosshirnmantels auch die jeweilige Organisationshöhe des Gehirns, und sie geben damit einen aufschlussreichen Hinweis auf die Ranghöhe der einzelnen Arten innerhalb des biologischen Systems.
Die zunehmende Organisationshöhe des Gehirns und die damit verbundene jeweils höhere Komplexität des Zentralnervensystems müssen nach Portmann im Rahmen der Gehirn und Zentralnervensystem zukommenden Funktion im gesamten Leben einer Art auf ihrer je spezifischen evolutionären Entwicklungshöhe gesehen werden. Erst von der ganzen Lebens- und Entwicklungsform einer Art und ihrer einzelnen Organismen her erschliesst sich der Sinn der jeweils spezifischen physiologischen Charakteristika der Lebewesen. In einer solchen Betrachtungsweise bedeutet die zunehmende Organisationshöhe von Gehirn und Zentralnervensystem eine zunehmend variablere, «instinkt»ungebundenere, «freiere» Beziehung der Lebewesen sowohl zu ihrer materiellen wie zu ihrer sozialen Umwelt (handle es sich dabei um Lebewesen der eigenen Art oder solche anderer Arten).
Mit diesem Ansatz ging Portmann über die reine Beschreibung physiologischer oder morphologischer Gegebenheiten hinaus und betrachtete diese auch in ihrer Bedeutung für das Umwelterleben und Umweltverhältnis und dabei insbesondere für das Verhalten und vor allem das Sozialverhalten der Lebewesen.
Diese Untersuchungen und Überlegungen führten Portmann zwangsläufig über den Bereich der Tierwelt hinaus zum Menschen und zur Frage nach dessen eigener Stellung innerhalb des biologischen Systems. Die Biologie weitete sich damit zur Anthropologie. Die Untersuchung der Gehirnentwicklung war dabei nur ein Element in einem umfassenden Vergleich der gesamten Lebens- und Entwicklungsform des Menschen — vom Keim über Embryo, Geburt, Säuglingsalter, Jugend, Pubertät, Reifestadium, Alter bis zum Tod — mit den entsprechenden Vorgängen bei Tieren, das heisst vor allem bei den Säugetieren und insbesondere bei den Primaten. Dieser Vergleich führte Portmann zur Erkenntnis der über die physiologischen und morphologischen Unterschiede weit hinausgehenden Sonderstellung des Menschen unter den Lebewesen,
Berühmt wurde in diesem Zusammenhang Portmanns Charakterisierung des Menschen als eines «sekundären Nesthockers» und seine Definition des ersten Lebensjahres des Menschen als «extrauterines Frühjahr»: Im Gegensatz zu den Neugeborenen seiner nächsten Verwandten unter den Lebewesen, den Primaten, ist der neugeborene Mensch noch nicht fortbewegungs- und kommunikationsfähig, ist also kein Nestflüchter. (Dass Portmann auch die Neugeborenen der Menschenaffen als reine Nestflüchter bezeichnete, blieb nicht ganz unwidersprochen, hängen doch auch diese anfänglich noch von Schutz und Fürsorge der Eltern ab.) Aus vergleichenden Untersuchungen und Betrachtungen gewann nun Portmann die Ansicht, dass der Mensch bei seiner Geburt nicht etwa ein den Neugeborenen niedrigstufigerer Lebewesen vergleichbarer, zurückgebliebener «Nesthocker» sei (was die damals noch gängige Meinung gleichzeitig als Rückschritt des Menschen auf der Stufenleiter der Evolution und als Degenerierung interpretierte), sondern dass der Mensch vielmehr — ein Jahr zu früh auf die Welt komme, dass er eine «physiologische Frühgeburt» sei! Eben ein «sekundärer Nesthocker».
Erst am Ende seines ersten Lebensjahres erreicht der Mensch nach Portmann den Entwicklungsstand des neugeborenen Primaten, aber er erreicht ihn eben doch schon in eigener Ausprägung. Im ersten Lebensjahr, dem «extrauterinen Frühjahr», erwirbt der Mensch drei wichtige Eigenschaften oder besser Fähigkeiten: die aufrechte Haltung, die Anfänge der Sprache und die Grundelemente des einsichtigen Handelns. Diese drei Fähigkeiten entwickeln sich nicht einfach nach einem fixen, unveränderlichen, genetisch vorgegebenen Plan; vielmehr entwickeln sie sich in diesem extrauterinen Frühjahr bereits in gegenseitiger Beziehung und Beeinflussung untereinander, und vor allem erhalten sie dabei bereits eine starke Prägung durch die soziale Umwelt.
Die Tatsache der «physiologischen Frühgeburt» ist für Portmann nicht ein Zufall der Evolution oder gar eine Fehlanpassung, sondern vielmehr ein höchst sinnvolles Element in der Herausbildung der ganzen Lebensform des Menschen: «Die von der Säugernorm so weit abweichende Ontogenese des Menschen (…) entspricht der Tatsache des weltoffenen Wesens, dem Umstand, dass unsere Sozialwelt uns nicht erblich gegeben ist, sondern aus ererbter Anlage und Kontakt mit der Wirklichkeit sich in jedem einzelnen Menschen wieder neu gestalten muss.» Hier liegen auch die Grundbedingungen und die Grundlagen für die Individualität des je einzelnen Menschen: «Unsere psychischen Anlagen reifen nicht durch Selbstdifferenzierung zu den fertigen, nur geringer Nuancierung fähigen Verhaltensweisen heran, wie wir sie von den Tieren kennen, sondern erst im Kontakt mit dem reichen Inhalt der Umgebung entfalten sie sich zu der für jeden Einzelnen charakteristischen und zeitbedingten Form.» Die Dimension der Geschichtlichkeit ist damit für den einzelnen Menschen wie auch für die Menschen als Art durch die Form der ontogenetischen Entwicklung mitbedingt oder mitbegründet.
Aufrechte Haltung, Sprache und einsichtiges Handeln sind also von Beginn an auch sozial geprägte Fähigkeiten; bei ihrer Erwerbung geben die Hilfe und Anregung von seiten der Umgebenden, die eigene schöpferische Aktivität des Kindes sowie sein Drang zur Nachahmung in steter unlösbarer Wechselwirkung dem Entwicklungsgang sein Gepräge. In der Aufstellung von kausalen Beziehungen ist Portmann dabei aber vorsichtig: «Wir sagen nicht, der frühe Kontakt mit der Welt sei die Ursache des menschentypischen Verhaltens — was wir feststellen, ist eine Zuordnung von Erscheinungen, eine Entsprechung der Daseinsform eines Organismus und der Ontogenese dieser Gestalt.» Physische und psychische Entwicklung sind dabei auf schwer fassbare Weise eng miteinander verbunden; «in unserem Werdegang entstehen in unlösbarer Einheit, in steter, innigster Wechselwirkung das für uns kennzeichnende Welterleben ebenso wie die uns allein auszeichnende Endgestalt». Und diese Entwicklung muss in ihrer inneren Einheit gesehen werden: «Nur der wird die menschliche Entwicklung tiefer erfassen, der in jeder ihrer Etappen das Werden eines Menschen sieht, eines Organismus mit einzigartiger aufrechter Haltung, mit der Sonderart weltoffenen Verhaltens und einer durch die Sprache gestalteten sozialen Kulturwelt.»
Die Sonderart des weltoffenen Verhaltens stellt für den Menschen auch eine stete Herausforderung dar, begründet sie doch «dies einzigartige Ganze von Freiheit und Notwendigkeit». Freiheit der Entscheidung, aber auch Notwendigkeit der Entscheidung, will man sein Leben überhaupt bewusst und selbstbestimmt führen. Vor diese Notwendigkeit zur Entscheidung bleibt der Mensch dauernd gestellt; eine Rückkehr in eine organische Natürlichkeit ist ihm nach Portmann verwehrt. Vielmehr ist der Mensch aufgrund der ihm gegebenen relativen Entscheidungsfreiheit immer schon ein «historisches» Wesen: «Die historische Wandlung ist ein Glied unserer Seinsweise, ein Teil unserer Natur». Die relative Gestaltungsfreiheit und die Freiheit der Entscheidung aber eröffnen und umfassen dabei für den Menschen sowohl die Möglichkeit des Gelingens wie auch die des Scheiterns und stellen ihn damit stets neu vor seine Verantwortung.
Portmann wies auch hin auf die aus seinen Überlegungen folgenden Konsequenzen für das Menschenbild der Biologie. Im Gegensatz zu der in der Biologie bis dahin dominierenden Auffassung, die — ausgehend vom Vergleich physiologischer und morphologischer Gegebenheiten bei Mensch und Tier — eher das den Menschen mit dem Tierreich verbindende oder den beiden gar Gemeinsame betonte, hob Portmann das spezifisch Eigene des Lebewesens Mensch sowie dessen Sonderstellung im biologischen System hervor. Entgegen einer reduktionistischen, mechanistischen Auffassung vom menschlichen Organismus entwarf Portmann ein Menschenbild, das die geistig-psychische Dimension einschloss und ihr eine eigene Bedeutung beimass, nicht zuletzt für das vertiefte Verständnis der physiologischen Befunde selbst. Mit seinen Bemühungen um eine neue Auffassung der Biologie und mit seinen Beiträgen zur Anthropologie wirkte Portmann als Fortführer von Bemühungen einiger Denker und Forscher der Zwischenkriegszeit, von deren Werk er selbst ursprünglich wichtige Anregungen empfangen hatte. Genannt seien hier beispielsweise das Werk des Biologen Jakob von Uexküll oder der Philosophen Max Scheler und Helmuth Plessner.
Wissenschaftliche Grenzüberschreitung
Seine Untersuchungen und Überlegungen zur Sonderart der menschlichen Entwicklungs- und Daseinsform legte Portmann (nach der vorangegangenen Publikation von Artikeln) in ausführlicher und gesammelter Form vor in seinem 1944 erschienenen Buch «Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen». Nach einer zweiten Auflage 1951 kam es 1956 unter dem Titel «Die Zoologie und das neue Bild des Menschen» in Rowohlts Deutscher Enzyklopädie heraus. Diese Ausgabe begründete recht eigentlich Portmanns Bekanntheit bei einem breiteren Publikum vor allem in Deutschland; in der Schweiz war er bereits vorher durch seine zahllosen Radiovorträge bekannt geworden.
Mit dem Werk «Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen» ging Portmann dezidiert über den engeren Rahmen der Biologie wie auch der Naturwissenschaften im allgemeinen hinaus und trat ein in einen Dialog mit Vertretern anderer Wissenschaften, das heisst vor allem der Geistes- und Humanwissenschaften, in einen Dialog um — wie Karl Barth es nannte – «die Gewinnung eines Menschenbildes». Portmanns wertvoller Beitrag zu diesem Dialog bestand darin, die spezifischen wissenschaftlichen Erkenntnisse und Erfahrungen des Naturforschers, welche man seiner Meinung nach berücksichtigen musste, wollte man nicht der reinen Spekulation verfallen, einzubringen und zusammenzustellen zu dem, was er eine «basale Anthropologie» nannte.
Portmanns Bereitschaft zur wissenschaftlichen Grenzüberschreitung fand das Interesse gesprächsbereiter Dialogpartner auf seiten der Nicht-Naturwissenschafter. Seinen konkreten Ort fand dieser Dialog vor allem im Eranos-Kreis, zu dessen Tagung des Jahres 1946 Portmann eingeladen wurde. Von nun an nahm er regelmässig an den jährlichen Tagungen teil, ab 1962 wurde er sogar zu deren Leiter. Seine hier, am Ufer des Lago Maggiore gehaltenen Vorträge erschienen jeweils in den Eranos-Jahrbüchern, die Vorträge der Jahre 1946 bis 1962 finden sich zudem auch in den beiden Sammelbänden «Biologie und Geist» (heute ein Suhrkamp-Taschenbuch) und «Aufbruch der Lebensforschung» (Rhein-Verlag). In diesen Aufsätzen Portmanns findet sich die wohl klarste und konzentrierteste Darlegung seines Welt- und Menschenbildes und seiner Naturphilosophie, daneben aber auch eine reiche Vielfalt von die verschiedensten Gebiete und Themen berührenden Gedanken. Diese geben Zeugnis von seinem umfassenden, weite Wissens- und Lebensbereiche einbeziehenden Suchen und Denken.
Es ist unmöglich, auf alle die in diesen Vorträgen wie auch in Portmanns anderen Büchern aus den folgenden Jahren enthaltenen Gedanken und Überlegungen einzugehen oder sie in der geforderten Kürze zusammenzufassen. Einige Hinweise müssen genügen.
Hinter allen diesen Ausführungen Portmanns ist immer wieder sein grundsätzliches Bemühen spürbar, eine umfassende Auffassung vom Lebendigen und gleichzeitig eine erweiterte Auffassung der mit diesem Lebendigen beschäftigten Naturforschung zu fördern und durchzusetzen. Eine solche Erweiterung sah er für die Biologie zum Beispiel mit der Verhaltensforschung in ihrem weitesten Sinn gegeben. Mit ihrer Hilfe konnte etwa im Falle der Ausbildung und der Form- und Farbgebung des Federkleides der Vögel oder des Haarkleides anderer Tiere die Erforschung und Beschreibung der entsprechenden chemisch-physikalischen Prozesse ergänzt werden durch die Beschreibung der Bedeutung, welche Form und Farbe in der äusseren Erscheinung der Tiere in deren Sozialleben spielen. Innerlichkeit und äussere Erscheinung stehen für Portmann sowieso in enger Beziehung zueinander: das Äusserste kann vom Innersten künden, so etwa, wenn der abrupte Farbwechsel des Schuppenkleides eines Fisches eine Änderung seiner innersten «psychischen» Disposition, seiner Stimmung, anzeigt. Portmann hält die Frage nach den Gründen für die vielfältigen and reichen Formen in der äusseren Erscheinung der Lebewesen nicht allein dadurch lösbar, dass man diese Formen als (evolutionstheoretisch gesehen) funktional erklärt; vielmehr ist die äussere Gestalt auch Selbstdarstellung des lebendigen Organismus — eine von Portmanns umstrittensten Ansichten. «Selbstdarstellung als Ausdruck einer spezifischen Seinsform und als Manifestation von unbekannter Innerlichkeit ist ein Grundphänomen des Lebendigen», und sie kommt zum Ausdruck eben in der äusseren Gestalt. Der für Portmann ebenfalls wichtige Begriff Innerlichkeit ist für ihn ein stellvertretendes Wort, ein wissenschaftliches Symbol für einen komplexen Sachverhalt: «Innerlichkeit nennen wir also die besondere Seinsweise des Lebendigen, von der wir maximal aus eigenem Erleben wissen, für die wir bei anderen Organismen Zeugnisse vorfinden, und zwar in abnehmendem Masse, wenn wir uns von der eigenen Organisation entfernen zu immer menschenferneren Lebewesen hin». Diese Innerlichkeit umfasst neben den bewussten auch die unbewussten Teile des Innenlebens, aus welchen zum Beispiel dem Menschen seine Selbstidentität und seine subjektive Selbsterfahrung als ein denkendes und fühlendes Subjekt zukommt.
Während Portmann in den vierziger und fünfziger Jahren noch hoffnungsvoll davon ausging, dass sich die von ihm vertretene und geförderte, erweiterte Auffassung von Sinn und Methode der biologischen Forschung durchsetzen würde, so musste er im Laufe der Jahre miterleben, wie die reduktionistische, auf die Erforschung und technische Beherrschung chemisch-physikalischer Prozesse konzentrierte Naturforschung einen neuen Siegeszug antrat und dabei bisher noch nie gekannte Mittel und Möglichkeiten zum Eingriff in den Gesamtzusammenhang des Lebens erwarb. Portmanns tiefe Ehrfurcht vor den lebendigen Organismen und den vielfältigen Formen und Gestalten der Natur führte ihn zur engagierten Stellungnahme gegen die durch die moderne biotechnische Forschung ermöglichten massiven manipulativen Eingriffe in unser ökologisches System und in die genetischen Grundstrukturen des Lebens. Bereits in den vierziger Jahren hatte Portmann hingewiesen auf die Notwendigkeit, den unabhängig von uns Menschen gewachsenen immensen Formen- und Artenreichtum der Natur, den wir zu vernichten im Begriffe sind (mit all den Konsequenzen einer Verarmung unserer Lebensumwelt) schützend zu erhalten. Das manifeste Versagen des Menschen bei seinen Eingriffen in die ökologische Umwelt sollte uns nach seiner Meinung aber auch warnen vor den Gefahren eines Eingriffs in das genetische Erbgut des Menschen. Solche Zurückhaltung drängt sich zum einen schon auf aus Ehrfurcht — Ehrfurcht vor dem geheimnisvollen Gesamtzusammenhang des Lebens, von dem wir nur ein Teil sind, und Ehrfurcht vor einer Lebensform, die wir nicht selbst geschaffen haben. Zum andern aber drängt sich solche Zurückhaltung auch auf wegen der hohen Komplexität des Gesamtzusammenhangs des menschlichen Lebens und wegen der daraus folgenden Unmöglichkeit, alle Konsequenzen von Eingriffen in diesen komplexen Gesamtzusammenhang abzusehen — Konsequenzen sowohl physisch-materieller wie psychisch-geistiger oder auch sozialer Art. Portmann plädiert damit für eine Selbstbeschränkung in der Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, die in wohltuendem Gegensatz steht zur Hybris, der man bei manchen Naturwissenschaftern der heutigen Zeit begegnet. Vor solcher Hybris wie vor jeder Eindimensionalität überhaupt wurde Portmann bewahrt durch seine Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Lebens, durch sein umfassendes Welt- und Menschenbild und durch seine Aufmerksamkeit auch für die ausserhalb der im engeren Sinne verstandenen Wissenschaften liegenden Bereiche und Probleme.
Portmann hat auch einer heutigen Zeit noch viel zu sagen.