Gers­hom Scholem


Bas­ler Zei­tung, 24. Febru­ar 1982

Zum Tode von Gers­hom Scholem

Hin­wen­dung zur Geschich­te des Judentums 

Von Paul Huber

Gers­hom Scholem, der gros­se jüdi­sche Reli­gi­ons­his­to­ri­ker, der eigent­li­che Begrün­der der Erfor­schung der jüdi­schen Mys­tik und vor allem ihrer haupt­säch­lichs­ten Form, der Kab­ba­la, ist letz­te Woche in Jeru­sa­lem gestorben.

Wenn man die Geschichts­schrei­bung immer auch als ein Mit­tel zur Selbst­de­fi­ni­ti­on und Selbst­fin­dung eines ein­zel­nen oder eines Gemein­we­sens betrach­ten kann, als ein Mit­tel, durch Aus­ein­an­der­set­zung mit der eige­nen Ver­gan­gen­heit sich der eige­nen Iden­ti­tät in der Gegen­wart bewusst zu wer­den und zu ver­si­chern, so trifft eine sol­che Betrach­tung im Fal­le Gers­hom Scholems sicher voll­um­fäng­lich zu. Es war gera­de der Drang, sich klar­zu­wer­den über die Iden­ti­tät des Juden­tums, ja die­se Iden­ti­tät über­haupt zu begrün­den, der in Scholems Jugend den Grund bil­de­te für sei­ne Hin­wen­dung zur Geschich­te eben die­ses Juden­tums und sei­ner Religion. 

Gers­hom Scholem wur­de am 5. Dezem­ber 1897 in Ber­lin gebo­ren, als Sohn einer assi­mi­lier­ten jüdi­schen Fami­lie, in der jüdi­sches Tra­di­ti­ons­gut, sei es reli­giö­ses oder säku­la­res, bei­na­he kei­ne Rol­le mehr spiel­te. Scholem wand­te sich schon sehr früh gegen die Selbst­auf­ga­be des deut­schen Juden­tums, die her­vor­ging aus einer Auf­fas­sung der Assi­mi­la­ti­on, in der vom Juden ein­sei­tig die Auf­ga­be sei­ner Iden­ti­tät als Jude ver­langt wur­de. Vor allem aber wand­te er sich gegen den damit ver­bun­de­nen Selbst­be­trug gros­ser Tei­le des deut­schen Juden­tums, die an die Mög­lich­keit der Ver­schmel­zung mit ihrer deut­schen Umwelt glaub­ten oder glau­ben woll­ten, obwohl sie wuss­ten, dass ihre Zunei­gung zu den Deut­schen eine ein­sei­ti­ge war und von deut­scher Sei­te gleich­gül­tig bis ableh­nend betrach­tet wur­de. Auf den «Pro­zess fort­schrei­ten­der geis­ti­ger Zer­fa­se­rung des Juden­tums» und auf das «Durch­ein­an­der» in der Lebens­form der assi­mi­lier­ten Juden reagier­te Scholem auf sei­ne Wei­se, indem er schon 1911 frei­wil­lig mit dem Stu­di­um des Hebräi­schen begann und sich auch bereits zio­nis­ti­schem Gedan­ken­gut zuwand­te, was in der Fol­ge zu schar­fen Aus­ein­an­der­set­zun­gen, haupt­säch­lich mit sei­nem Vater, führ­te. Vor allem aber ist Scholems Hin­wen­dung zur Geschich­te des Juden­tums auf­zu­fas­sen als eine Reak­ti­on auf die­se Ent­wick­lung, in der die Iden­ti­tät des Juden­tums durch des­sen Selbst­auf­ga­be voll­ends zu ver­schwin­den droh­te. Ande­re Mög­lich­kei­ten des Weges eines deut­schen Juden waren in Scholems Fami­lie selbst gege­ben: ein Bru­der wur­de spä­ter kom­mu­nis­ti­scher Reichs­tags­ab­ge­ord­ne­ter, ein ande­rer Bru­der Mit­glied der Deut­schen Volks­par­tei. Ein ande­rer mög­li­cher Weg tut sich aber auch im tra­gi­schen Schick­sal Wal­ter Ben­ja­mins auf; die Schil­de­rung von Scholems lang­jäh­ri­ger Bezie­hung zu ihm wür­de eine eige­ne Dar­stel­lung verlangen. 

Nach­dem Scholem zuerst Mathe­ma­tik, Phi­lo­so­phie und Phy­sik stu­diert hat­te, ent­schied er sich 1919 für die Erfor­schung der Quel­len des Juden­tums. 1922 dok­to­rier­te er in Mün­chen über ein The­ma aus dem Bereich der Kab­ba­la (Das Buch Bahir, Leip­zig 1923). Ein Jahr nach sei­ner Pro­mo­ti­on über­sie­del­te er nach Paläs­ti­na, wo er vor­erst Dozent, 1933 dann Pro­fes­sor an der Hebräi­schen Uni­ver­si­tät wur­de. Hier wid­me­te er sich nun der Erfor­schung der jüdi­schen Mys­tik und vor allem der Kab­ba­la, wobei es zuerst ein­mal um eine eigent­li­che Begrün­dung die­ses For­schungs­ge­bie­tes, auch im Sin­ne der kri­ti­schen Sich­tung der schrift­li­chen Quel­len, ging, denn Scholem stiess hier in ein Gebiet vor, das von der bis­he­ri­gen For­schung über das Juden­tum weit­ge­hend ver­nach­läs­sigt wor­den war. Die Wis­sen­schaft vom Juden­tum, die zu Beginn des 19. Jahr­hun­derts in Deutsch­land ent­stan­den war, war bei ihren frü­hen Trä­gern eher auf Akzep­tie­rung und Assi­mi­lie­rung aus­ge­rich­tet gewe­sen und hat­te daher das spe­zi­fisch das Juden­tum Aus­zeich­nen­de eher ver­nach­läs­sigt oder unter­schla­gen und dage­gen mehr das mit der deut­schen und christ­li­chen Kul­tur Gemein­sa­me, also etwa das all­ge­mein Mora­li­sche, in den Vor­der­grund gestellt. Scholem ging es dage­gen viel­mehr um das spe­zi­fisch und unver­wech­sel­bar Eige­ne der jüdi­schen Tra­di­ti­on, und dazu gehör­te die jüdi­sche Mystik. 

Ihre Erfor­schung fand ihre ers­te zusam­men­fas­sen­de Dar­stel­lung in dem 1941 zum ers­ten Mal erschie­ne­nen Werk «Die jüdi­sche Mys­tik in ihren Haupt­strö­mun­gen». Als wei­te­re, auf deutsch erhält­li­che Wer­ke und Auf­satz­samm­lun­gen Scholems wol­len wir nen­nen «Zur Kab­ba­la und ihrer Sym­bo­lik», «Von der mys­ti­schen Gestalt der Gott­heit», «Über eini­ge Grund­be­grif­fe des Juden­tums», die drei Bän­de «Judai­ca», aber auch das auto­bio­gra­phi­sche Buch «Von Ber­lin nach Jeru­sa­lem» und Scholems Buch über sei­ne Bezie­hung zu Wal­ter Ben­ja­min. Eine reli­gi­ons­his­to­ri­sche Wür­di­gung die­ser Wer­ke muss andern vor­be­hal­ten blei­ben, hin­ge­wie­sen kann hier nur wer­den auf Scholems Nach­weis, dass die jüdi­sche Mys­tik das Juden­tum in sei­ner gan­zen Geschich­te seit dem ers­ten vor­christ­li­chen Jahr­hun­dert beglei­te­te, und dass die ältes­te jüdi­sche Mys­tik «sich nicht etwa am Ran­de, son­dern im genau­es­ten Zen­trum des sich aus­bil­den­den rab­bi­ni­schen, pha­ri­säi­schen Juden­tums voll­zo­gen hat». 

Scholem ver­folgt die jüdi­sche Mys­tik von der Früh­zeit an, über die ab 1200 sich aus­bil­den­de Kab­ba­la und deren Auf­fas­sung bei dem gros­sen Isaak Luria im 16. Jahr­hun­dert, über den Sab­ba­tia­nis­mus und die mys­ti­sche Häre­sie des 17. und 18. Jahr­hun­derts bis zum Chas­si­dis­mus in Polen, der letz­ten Pha­se der jüdi­schen Mys­tik, die mit dem Unter­gang des Ost­ju­den­tums in den Hit­ler­schen Ver­nich­tungs­zü­gen end­gül­tig ver­schwand. Dabei betont Scholem die Rol­le, die die Mys­tik und ins­be­son­de­re die Kab­ba­la gera­de auch für das Selbst­ver­ständ­nis der dama­li­gen Juden spiel­te, indem sie ihnen ihre eige­ne Exis­tenz in den Wir­ren der Geschich­te und in den Ver­fol­gun­gen «sym­bo­lisch deu­te­te als Dar­stel­lung irgend­ei­ner tie­fe­ren Wirk­lich­keit». «Was die Kab­ba­lis­ten als Erschei­nung in der Geschich­te des jüdi­schen Vol­kes als Phä­no­men aus­zeich­net, ist im wesent­li­chen die sym­bo­li­sche Auf­fas­sung der Welt, die Auf­fas­sung des Juden­tums als eines sym­bo­li­schen Kör­pers, in dem etwas Unaus­sprech­ba­res sicht­bar wird, näm­lich die Gesamt­heit der Welt, die Tota­li­tät der gött­li­chen Offen­ba­rung in der Welt.» 


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