Neue Zürcher Zeitung, 1./2. September 1979
Chronist einer untergegangenen Welt
Über Isaac Bashevis Singer
Von Paul Huber
Die Ermordung von Millionen von Juden Osteuropas durch die Nationalsozialisten bedeutete den endgültigen Untergang der jahrhundertealten Welt des Ostjudentums, dieser Welt mit ihrer eigenen Kultur, Folklore und Sprache, dem Jiddischen. Allein in Polen lebten vor Kriegsausbruch etwa 3,3 Millionen Juden; 3 Millionen von ihnen wurden umgebracht, viele der Überlebenden emigrierten nach Israel und Übersee. Das Jiddische, herausgerissen aus dem ursprünglichen gesellschaftlichen Zusammenhalt, in dem es gesprochen wurde, gilt heute als eine sterbende Sprache. Gerade in dieser untergehenden Sprache jedoch schreibt der 1904 in Polen geborene, 1935 nach New York emigrierte Schriftsteller lsaac Bashevis Singer seine Werke, in welchen er die untergegangene Welt der osteuropäischen, vor allem polnischen Juden noch einmal aufleben lässt.
Anders als bei den Juden Mitteleuropas, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts grossteils dem Reformjudentum zuwandten und sich auf den Weg der Assimilation begaben, lebten bei den Ostjuden traditionelle Glaubens- und Lebensformen in grossem Masse bis ins 20. Jahrhundert hinein fort. Bedeutend war dabei insbesondere das Weiterleben des Chassidismus, dieser an der Wende zum 18. Jahrhundert in Polen entstandenen, mystisch geprägten Form des jüdischen Glaubens, mit seiner reichen religiösen Überlieferung sowie seinen Legenden über Wunderrabbis, Dybbuks und anderes Übernatürliches. Sichtbar präsent war der Chassidismus in den Gestalten seiner Anhänger, der Chassidim, mit ihren Bärten, Schläfenlocken und bodenlangen Mänteln.
Kindheit und Jugend
In dieser Welt des traditionellen polnischen Judentums wuchs Isaac Bashevis Singer auf. In Warschau, wo sein Vater als inoffizieller, nicht von einer Gemeinde ausgehaltener Rabbi nur mühsam ein Auskommen fand, besuchte Singer die Talmudschule und erhielt die Ausbildung, die ihn eigentlich zu einem Rabbi bestimmt hätte. Er wurde eingeführt in die orthodoxe Tradition und Glaubenswelt, die er noch als ein einheitliches Ganzes mitgeteilt erhielt und die er noch erlebte als die Kultur einer traditionellen jüdischen Gemeinschaft, wie sie ihm von seinen Eltern stellvertretend repräsentiert wurde. Dabei gehörten zur Überlieferung dieser traditionellen Gemeinschaft auch die wundersamen Geschichten und Erzählungen, die ihm vor allem seine Mutter oder Tante Yentl mitteilten.
Von diesen Jugendjahren bis zur Pubertät berichtet Singer selbst in einem seiner schönsten Werke, den autobiographischen Erzählungen des Bandes «Mein Vater, der Rabbi». Zum Rabbi, einer Art Brennpunkt des jüdischen Lebens, kommen die Leute mit den unterschiedlichsten Problemen und Fragen, sowohl religiöser als auch geschäftlicher, ehelicher oder sonstiger Art. Indem Singer die Besucher des Vaters und ihre Anliegen schildert, kommt in facettenreicher Form das vielfältige Leben dieser jüdischen Bevölkerung zur Darstellung, werden ihre Sitten und Gebräuche erkennbar und treten einem einzelne der Individuen daraus greifbar vor Augen. Es ist eine Gemeinschaft, deren Leben in jedem Aspekt geregelt wird durch das Gesetz – das Gesetz der Schrift und des Talmud, nach dem der Rabbi, Singers Vater, all die ihm vorgelegten Fragen zu entscheiden hat.
Die meisten Menschen, die zu Singers Vater kommen, sind arm, und arm ist auch die Familie Singer. Einen Reichtum jedoch gibt es: das sind die Bücher, die das Studierzimmer des Vaters füllen und mit deren Inhalt Singer schon früh vertraut ist. Aber bald gibt er sich nicht mehr zufrieden mit den Glaubenssätzen der Überlieferung, sondern stellt weitergehende Fragen zu Gott und der Welt. Anregung dazu erhält er auch von seinem älteren Bruder. Joschua, der malt und schreibt, verbreitet in der Familie die Kunde von neuen wissenschaftlichen und sozialen Theorien; er bestreitet, dass die Schrift eine Offenbarung Gottes sei, womit für ihn auch das traditionelle jüdische Leben, das sich auf die Schrift stützt, keine Berechtigung mehr hat. Er nennt die Juden Asiaten, die noch im Mittelalter leben, während Europa erwacht sei. In den Streitgesprächen mit ihm vertritt der Vater dagegen die Altgläubigkeit.
Singer beschreibt, wie er in seinen jungen Jahren Antworten auf seine Fragen sucht: «Und immer blieb die letzte Frage: Was ist richtig? Was soll ich tun? Warum blieb Gott im Siebten Himmel so stumm?» Und er erwähnt, welch grossen Eindruck bei seinen Lektüren das Werk Spinozas auf ihn gemacht hat.
Eines Tages kommt Singer als Talmüdschüler mit Mantel und Schläfenlocken zu einem Besuch ins Atelier seines Bruders, wo nackte Mädchen Modell stehen:
«Verglichen mit dem Studierzimmer meines Vater, lernte ich hier eine ganz neue Welt kennen, aber ich habe den Eindruck, als wäre sie bestimmend für einen Teil meines Wesens geworden. Selbst in meinen Erzählungen ist es nur ein Schritt vom Lehrhaus zum Sexus und wieder zurück. Beide Aspekte menschlicher Existenz haben mich schon immer interessiert.»
Neben die Spannung zwischen Glauben und Aufklärung tritt somit die Spannung zwischen Glauben und Sexus. Die Sexualität tritt in Singers Werk immer wieder als existentielle Macht auf, die mit ihren Ansprüchen alle Vorschriften des Gesetzes gefährdet, oft auch überrollt. Gerade die Sexualität gibt Singer die Möglichkeit, den Menschen zu zeigen in seinem Zwiespalt zwischen dem Suchen nach geistiger Läuterung und seiner physischen Bedingtheit und Hinfälligkeit.
Das erzählerische Werk
Der wichtigste Teil von Singers Werk sind zweifellos die Erzählungen. In ihnen zeigt sich seine Meisterschaft, und sie sind es, die ihn zu einem der grossen Schriftsteller unserer Zeit machen. –– Aus den drei frühen Erzählungssammlungen «Gimpel the Fool», «The Spinoza of Market Street» und «Short Friday» liegt auf Deutsch eine Auswahl vor in dem Band «Gimpel der Narr». Im Gegensatz zu späteren Sammlungen spielen diese Erzählungen noch fast ausschliesslich in Polen, unter den Juden jener Dörfer und Städte, die die Bühne bilden für Singers menschliches Universum, Wir finden hier Erzählungen von verschiedenster Stimmung. So etwa feinfühlige wie «Taibele und ihr Dämon», die Geschichte von Taibele und ihrem Geliebten, von dem niemand im Dorf etwas weiss und von dem sie selbst (da er sich als Dämon ausgibt) nicht weiss, dass es der Hilfslehrer ist. In «Kurzer Freitag» erzählt Singer auf schlichte Art von einem alten frommen Ehepaar, das sich im Winter, am kürzesten Freitag des Jahres, in festlicher Stimmung auf den Sabbat vorbereitet, sich voller Vorfreude früh zu Bett legt, nachts erwacht und erlebt, wie es von einem Engel ins Paradies geholt wird.
Eindrücklich ist die Erzählung «Der Spinoza von der Marktstrasse», die Geschichte des Dr. Fischelsohn, der in einer armseligen Wohnung unter dem Dach lebt. Durch die Dachluke sieht er unter sich die Marktstrasse, über sich jedoch nachts das Firmament, in dessen Anschauung er den von Spinoza beschriebenen Zustand des amor dei intellectualis anstrebt. So steht er, in seiner Höhe zwischen Marktstrasse und Universum, sinnbildlich zwischen dem Streben nach Vergeistigung und den Bedingungen und Verstrickungen des Irdischen, die ihm, natürlich, in der Gestalt einer Frau begegnen.
Neben derartigen Erzählungen gibt es jedoch auch solche von äusserster Expressivität, wie etwa «Blut», die Geschichte von Rischa, der Frau eines ehrbaren Mannes, und ihrem Geliebten, dem Schächter, die zusammen einer völligen sexuellen Enthemmung verfallen. Oder die Erzählung «Die Zerstörung von Kreschew»: Der Mann eines neu verheirateten Mädchens entpuppt sich als heimlicher Anhänger der Sekte des Sabbatai Zewi und führt seine Frau auf verbotene Pfade; von der Versenkung in mystische Geheimnisse ist es nur ein Schritt zur Übertretung des Gesetzes, die wiederum auch vor allem im sexuellen Bereich geschieht. Die Verletzung des Gesetzes bedroht aber auch die Gemeinschaft, die durch dieses Gesetz zusammengehalten wird; die Ereignisse verketten sich denn auch bis zur Zerstörung von Kreschew.
Singers Erzählungen gehen vom Realistischen bis zum Phantastischen; er benutzt alle Erzählperspektiven, bis zur Ich-Form, wobei das Ich dabei durchaus der Böse sein kann oder ein Dämon, der von seinen Versuchen berichtet, einen Rabbi zu korrumpieren. Eindrückliche Wirkungen erzielt Singer auch durch das Erzählen aus der subjektiven Perspektive einer Figur heraus, wie etwa in «Schwarze Hochzeit», wo eine Braut ihre Vermählung, während das Dorf fröhlich feiert, als eine Heirat mit einem bösen Geist erlebt, dem sie einen Dämon zu gebären hat; im Kindbett im Sterben liegend, fühlt sie sich rettungslos dem Abgrund des Bösen zufallen — ohne dass jemand ahnt, was in ihr vorgeht.
Alle diese Figuren sind Teil der grossen traditionellen Gemeinschaft des polnischen Judentums, einer Gemeinschaft, die als Ideal und als Gegenstand der Sehnsucht immer wieder durchscheint und beschworen wird. Auch in ihrem Innern sind sie alle, selbst die Abtrünnigen, geprägt von überlieferten Traditionen und vom überlieferten Glauben; Stellen aus den Schriften dienen ihnen immer wieder als Stütze und helfen, die Welt zu kommentieren und zu bewältigen.
Nach den genannten Bänden erschienen in den folgenden Jahren weitere Erzählungssammlungen Singers, «The Séance», «A Friend of Kafka», «Der Rabbi vom East Broadway», «Leidenschaften» (teils bereits auf Deutsch erhältlich. Auf Singers zahlreiche Kinderbücher, zum Teil ebenfalls übersetzt, können wir hier nicht näher eingehen). Eine stets grössere Zahl dieser Erzählungen spielt nicht mehr in Polen, sondern in Amerika. Die Personen sind jedoch weiterhin polnische Juden, die, auch in Amerika, noch immer ihre Identität aus der starken Erinnerung an ihre alte Heimat erhalten.
Einige der Erzählungen spielen aber auch weiterhin in Polen, und viele der ehemaligen Bekannten zum Beispiel aus Warschau, über die Singer schreibt, waren einst reale Personen. Singer will die Erinnerung an sie festhalten, wie er selbst in seinen Einleitungen schreibt – sozusagen als Chronist, der noch einmal Kunde davon gibt, dass diese Menschen einst gelebt haben.
Die Romane
Neben seinen Erzählungen hat Singer auch eine Reihe von Romanen geschrieben, die jedoch — bei aller Subjektivität eines solchen Urteils – mit zwei Ausnahmen nicht die gleiche literarische Qualität erreichen wie die Erzählungen. Ein Grund mag sein, dass in den Romanen meist das Schicksal einer einzelnen Person verfolgt wird, und gerade dies gelingt Singer wohl besser in der kürzeren Form der Erzählung. Bezeichnenderweise sind seine beiden guten Romane, «Das Landhaus» und «The Family Moskat», auch nicht Berichte über eine einzelne Person, sondern stellen in weitläufiger Weise das Schicksal einer Vielzahl von Menschen gleichzeitig dar.
Der Roman «Das Landgut» beschreibt das Schicksal einer weitverzweigten jüdischen Familie, beginnend im Jahre 1863, nach dem misslungenen polnischen Aufstand gegen die Russen. Es ist die Zeit der raschen Industrialisierung Polens, die Zeit des Einbruchs der Moderne, die Zeit, in der «Sozialismus und Nationalismus, Zionismus und Assimilationismus, Nihilismus und Anarchismus, Suffragettismus, Atheismus, die Schwächung der Familienbande, freie Liebe und sogar die Anfänge des Faschismus» ihre Wurzel haben, wie Singer im Vorwort schreibt. Alle diese Bewegungen treten denn auch ins Blickfeld in diesem Roman, dessen erzählerische Vorbilder die Klassiker, vor allem die russischen, des letzten Jahrhunderts sind und nicht irgendeine Form der Avantgarde, zu deren Bemühungen Singer nach eigener Aussage nie eine Beziehung gehabt hat.
Einen historisch späteren Abschnitt jüdisch-polnischer Geschichte umfasst «The Family Moskat», zweifellos der schönste Roman Singers (dessen baldige Übersetzung ins Deutsche erhofft werden muss). Wieder wird das Schicksal einer weitverzweigten jüdischen Familie verfolgt, vom Beginn des Jahrhunderts bis zum Einmarsch der Deutschen in Warschau im Jahre 1939. Es ist aussichtslos, den Inhalt dieses Romans auch nur einigermassen vollständig zusammenfassen zu wollen. Nennen wir jedoch hier zumindest die zentrale, wiederum eindeutig autobiographische Züge aufweisende Person: Asa Heschel, Sohn eines Rabbi, ausgebildet in der Talmudschule. Er ist entfremdet von seinem Glauben auf der Suche nach dem Sinn der Welt. Die Lektüre der «Ethik» des Spinoza begleitet ihn durch alle seine Erlebnisse: Vorkriegszeit, Erster Weltkrieg, zwanziger und dreissiger Jahre. Dieses Werk befragt er immer wieder nach dem Sinn der Geschichte: Die Verbrecher, die Bösen, die Nazis, sind sie alle modi Gottes? Wie dann sie verurteilen? Ist auch er, Asa, ein modus Gottes? Was erwartet dann Gott von ihm? Was tun? Für was sich entscheiden? Asa Heschel fehlt die Überzeugung, die Entschlusskraft: Was soll er zur Grundlage der Entscheidungen machen, wenn die alten Gewissheiten unwiederbringlich verloren sind?
Und unwiederbringlich sind sie tatsächlich verloren, es führt kein Weg mehr zurück in die Orthodoxie. Zweifler kannte die jüdische Tradition immer, und auch Singer hat sie dargestellt, etwa in «Jakob der Knecht». Aber Jakob blieb im Grunde immer bei seinem Glauben; welche Möglichkeiten hatte er im 17. Jahrhundert, in dem er lebt? Den Glauben seiner Verfolger annehmen, wie er sich einmal fragt? Asa Heschel jedoch lebt in einer Zeit allgemeiner Aufklärung und Säkularisierung; die modernen Wissenschaften und Theorien greifen die Glaubenssysteme, alle Glaubenssysteme, in ihren Fundamenten an. So belegt Asa, wie andere Figuren Singers ebenfalls, dass auch unter den Juden Polens die Zeit der Orthodoxie vorbei war. Das polnische Judentum war in brodelndem, unausweichlichem Aufbruch in die Moderne – doch die Nationalsozialisten kamen ihm zuvor.
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In seinen Werken hat Singer noch einmal eine Welt zum Leben erweckt, die in der Wirklichkeit vollkommen verschwunden ist. Jahrhundertelang hatte sie überlebt, gestärkt und zusammengehalten durch die Hoffnung auf den Messias. Für dieses osteuropäische Judentum galten tatsächlich die grossartig-schrecklichen Schlussworte des Romans «The Family Moskat», jene Schlussworte, die ein Bekannter in einer Strasse des belagerten Warschau an Asa Heschel richtet, im Moment, als bereits die ersten Deutschen am Stadtrand einmarschieren: «Der Tod ist der Messias. Das ist die tatsächliche Wahrheit.»