Anto­nio Gramsci


Natio­nal-Zei­tung, Bei­la­ge NZ am Wochen­en­de, 13. Novem­ber 1976

Anto­nio Gramsci, Ita­li­en und die KPI

Leben und Werk des kom­mu­nis­ti­schen Theo­re­ti­kers – sei­ne Bedeu­tung und sei­ne Grenzen

Eine Ana­ly­se von Paul Huber 

vom Juni die­ses Jah­res stell­te sich mit gros­ser Dring­lich­keit das Pro­blem einer Regie­rungs­be­tei­li­gung der Kom­mu­nis­ten. Sie kam in der Fol­ge nicht zustan­de, aber das Pro­blem wird sich in Zukunft wohl erneut stellen. 

Die Erfol­ge und die zuneh­men­de Bedeu­tung der KPI in der ita­lie­ni­schen Poli­tik haben auch im Aus­land das Inter­es­se an die­ser Par­tei und ihrer Geschich­te ver­stärkt. Der Blick fiel dabei auch immer wie­der auf jenen Mann, den die ita­lie­ni­schen Kom­mu­nis­ten nicht nur als einen der Grün­der ihrer Par­tei, son­dern als einen ihrer gröss­ten Theo­re­ti­ker betrach­ten: Anto­nio Gramsci. 

Wer war Anto­nio Gramsci?

Er wur­de gebo­ren am 22. Janu­ar 1891 in Ales (Caglia­ri) auf Sar­di­ni­en, als vier­tes von sie­ben Kin­dern. Er besuch­te die Schu­le in Ghi­lar­za und absol­vier­te bis 1911 das Gym­na­si­um. Ein Sti­pen­di­um, das er gewinnt, ermög­licht ihm ein Stu­di­um. Im Herbst 1911 reist er nach Turin und schreibt sich an der Fakul­tät für Lite­ra­tur ein.

Die ers­ten Jah­re in Turin lebt Gramsci zurück­ge­zo­gen und wid­met sich sei­nen Stu­di­en, geplagt von mate­ri­el­len Nöten. Zwar hat er Kon­tak­te zur Sozia­lis­ti­schen Bewe­gung Turins, aber erst im Win­ter 1913 begin­nen sie enger zu wer­den; in die­se Zeit fällt auch sein Bei­tritt zur Sozia­lis­ti­schen Par­tei (PSI). Im Früh­jahr 1915 gibt er die Stu­di­en auf. Vor­her schon, am 31. Okto­ber 1914, war sein ers­ter Arti­kel erschie­nen, der Beginn einer jour­na­lis­ti­schen Tätig­keit, die bis zu sei­ner Ver­haf­tung (1926) anhal­ten soll­te. Die Zei­tungs­ar­ti­kel sind, mit weni­gen Aus­nah­men, die ein­zi­gen Doku­men­te, anhand derer man die Ent­wick­lung sei­nes Den­kens ver­fol­gen kann, denn Gramsci schrieb und ver­öf­fent­lich­te in die­ser Zeit kei­ne Bücher. 

Für Gramscis Den­ken bil­de­te das ent­schei­den­de Ereig­nis die Rus­si­sche Revo­lu­ti­on, deren über­zeug­ter Anhän­ger er wird; sei­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit den Theo­rien Lenins stellt für ihn das bestim­men­de intel­lek­tu­el­le Erleb­nis dar. 

< Ordi­ne Nuovo >

1919 grün­det Gramsci mit eini­gen Gleich­ge­sinn­ten (Tas­ca, Ter­ra­ci­ni, Togliat­ti) die Wochen­zeit­schrift «Ordi­ne Nuo­vo». Sie ist, zusam­men mit «Il Soviet» (gegrün­det in Nea­pel von Ama­deo Bord­i­ga), das Sprach­rohr der kom­mu­nis­ti­schen Frak­ti­on inner­halb des PSI, jener Frak­ti­on, aus der spä­ter die KPI her­vor­ge­hen soll­te. Von der Tri­bü­ne des «Ordi­ne Nuo­vo» aus ver­lan­gen Gramsci und sei­ne Freun­de von ihrer Par­tei eine revo­lu­tio­nä­re Poli­tik leni­nis­ti­scher Art. Nach Gramscis Mei­nung muss die Par­tei schon jetzt um die Bil­dung eines Räte­sys­tems bemüht sein, das spä­ter den bür­ger­li­chen Staat in sei­nen Funk­tio­nen erset­zen soll: «Der Fabrik­rat ist das Modell des pro­le­ta­ri­schen Staa­tes» (11.10.1919), stellt Gramsci fest und erklärt: «Die Revo­lu­ti­on ist kein wun­der­tä­ti­ger Akt, sie ist ein dia­lek­ti­scher Pro­zess der geschicht­li­chen Ent­wick­lung. Jeder Rat indus­tri­el­ler oder land­wirt­schaft­li­cher Arbei­ter, der um eine Arbeits­ein­heit ent­steht, ist ein Aus­gangs­punkt die­ser Ent­wick­lung, ist eine kom­mu­nis­ti­sche Verwirklichung.» 

Die Räte sind für Gramsci ein ers­ter Schritt auf dem Weg zur Revo­lu­ti­on und gleich­zei­tig Grund­la­ge des neu­en, pro­le­ta­ri­schen Staa­tes. Von die­ser ihrer dop­pel­ten Funk­ti­on her erklärt sich die Bedeu­tung, die Gramsci ihnen bei­mass; er kehrt immer wie­der zu die­ser Fra­ge zurück. Zur glei­chen Zeit ver­schärft sich aber auch sei­ne Kri­tik an der eige­nen Par­tei, die nach sei­ner Mei­nung kei­ne genü­gend revo­lu­tio­nä­re Poli­tik betreibt. 

Fabrik­be­set­zun­gen

In die­ser Situa­ti­on kommt es zu jenem Ereig­nis, das in man­cher Hin­sicht eines der ent­schei­den­den der Zwi­schen­kriegs­zeit in Ita­li­en ist: die Beset­zung der Fabri­ken durch die Metall­ar­bei­ter im Sep­tem­ber 1920. Die Kon­tro­ver­se, die von Lohn­for­de­run­gen aus­ge­gan­gen war, hat­te mit der Beset­zung eine Dimen­si­on ange­nom­men, die das gan­ze poli­ti­sche Sys­tem bedroh­te. Jedoch – die Fabrik­be­set­zun­gen enden nicht in einer Revo­lu­ti­on, wie Gramsci und mit ihm vie­le ande­re gehofft hat­ten, son­dern in einer Abstim­mung, in der sich die Arbei­ter für die zuge­spro­che­nen Lohn­er­hö­hun­gen und gegen die Durch­set­zung poli­ti­scher For­de­run­gen aussprechen. 

Der Kon­flikt inner­halb des PSI wird nun immer offe­ner. Am 21. Janu­ar 1921 unter­liegt am Par­tei­tag in Livor­no eine Moti­on der lin­ken Frak­ti­on, in der die Umge­stal­tung der Par­tei gemäss den Richt­li­ni­en der III. Inter­na­tio­na­le gefor­dert wird. Die kom­mu­nis­ti­schen Dele­gier­ten ver­las­sen den Saal und grün­den glei­chen­tags in Livor­no die Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei Ita­li­ens, «Sek­ti­on der III. Inter­na­tio­na­le». Mit dabei ist Gramsci, der zum Mit­glied des ers­ten Zen­tral­ko­mi­tees der neu­en Par­tei wird. 

Mus­so­li­nis Repression 

Die Fabrik­be­set­zun­gen hat­ten aber nicht nur die Grün­dung der KPI beschleu­nigt, son­dern auch einer ande­ren Bewe­gung Auf­trieb gege­ben: dem Faschis­mus, der nun die Stras­sen zu beherr­schen beginnt und den Gramsci als die «Mobi­li­sie­rung des Klein­bür­ger­tums für den Angriff des Kapi­tals gegen das Pro­le­ta­ri­at» begreift. Zwar erkennt Gramsci, dass der Faschis­mus «das obers­te Ziel jeder Bewe­gung, den Besitz der poli­ti­schen Macht» ver­folgt; trotz­dem kommt er in sei­nen Arti­keln nur wenig auf ihn zu spre­chen. Sei­ne dau­ern­de Pole­mik rich­tet sich gegen die Sozia­lis­ten, wohl gemäss den Aus­ar­bei­tun­gen der Internationalen. 

Der Marsch auf Rom am 28. Okto­ber 1922 bringt Mus­so­li­ni an die Macht. Gramsci befin­det sich seit Mai in Mos­kau, als Mit­glied der Exe­ku­ti­ve der Inter­na­tio­na­len. In einem Kran­ken­haus bei Mos­kau, wo er sich erholt, lernt er Juli­ja Schucht ken­nen; mit ihr hat er zwei Kin­der: Delio und Giu­lia­no. Im Novem­ber 1923 zieht Gramsci nach Wien. Am 6. April des fol­gen­den Jah­res zum Abge­ord­ne­ten gewählt, kehrt er im Mai nach Ita­li­en zurück und nimmt, nebst der Par­tei­ar­beit, an den Par­la­ments­sit­zun­gen teil. 

Nach der Matteot­ti-Kri­se wird die Repres­si­on der Regie­rung Mus­so­li­ni gegen die poli­ti­schen Geg­ner immer här­ter, und am 8. Novem­ber 1926 wird auch Gramsci, zusam­men mit ande­ren Füh­rern der KPI, ver­haf­tet. Er wird in einem ers­ten Ver­fah­ren zu fünf Jah­ren Ver­ban­nung ver­ur­teilt und auf die Insel Usti­ca gebracht. Am 1. Febru­ar 1927 beginnt das «Spe­zi­el­le Gericht für den Schutz des Staa­tes» sei­ne Arbeit; von die­sem wird Gramsci erneut ver­ur­teilt, dies­mal zu 20 Jah­ren, vier Mona­ten und fünf Tagen. Er tritt sei­ne Haft im Gefäng­nis von Turi (Bari) an. 

lm Novem­ber 1932 wird sei­ne Stra­fe auf zwölf Jah­re und vier Mona­te redu­ziert. inzwi­schen ver­schlech­tert sich sei­ne Gesund­heit immer mehr; er lei­det an Blut­hus­ten, sein kör­per­li­cher Zustand ist ernst. lm Okto­ber 1934 (Gramsci ist in einer Kli­nik inter­niert) wird er, nicht zuletzt dank einer Pres­se­kam­pa­gne im Aus­land, bedingt frei­ge­las­sen; im April 1936 folgt die defi­ni­ti­ve Frei­las­sung. Die andert­halb Jah­re dazwi­schen hat­te Gramsci unter Bewa­chung in einer Kli­nik ver­bracht. Aber schon am 25. April 1936 erlei­det er eine Gehirn­blu­tung. Sei­ne Schwä­ge­rin Tat­ja­na Schucht, die sich schon wäh­rend der Haft um ihn geküm­mert hat, pflegt ihn. Doch zwei Tage spä­ter stirbt Gramsci. 

Gramscis Haupt­werk

Wäh­rend der Zeit im Gefäng­nis nun sind die­je­ni­gen Schrif­ten Gramscis ent­stan­den, die als sein Haupt­werk gel­ten: die «Qua­der­ni del car­ce­re» - 29 Hef­te, in die Gramsci Noti­zen zu ver­schie­dens­ten The­men ein­trug, die ihn beschäf­tig­ten und die er spä­ter in aus­führ­li­cher Form behan­deln woll­te. Die Hef­te wur­den nach dem Krieg in einer Aus­ga­be her­aus­ge­ge­ben, die die Auf­zeich­nun­gen nach The­men­krei­sen ord­ne­te. Letz­tes Jahr erschien nun auch eine kri­ti­sche Aus­ga­be, die die Noti­zen, Heft für Heft, in der ursprüng­li­chen Rei­hen­fol­ge enthält. 

Die Auf­zeich­nun­gen der «Qua­der­ni» ent­wi­ckeln nicht immer ein geschlos­se­nes Kon­zept, son­dern sind oft ein­fach Anmer­kun­gen zu Büchern oder Arti­keln und damit ohne direk­ten Bezug zuein­an­der (was die Lek­tü­re manch­mal erschwert). Alle Auf­zeich­nun­gen aber; und inso­fern sind sie eben doch ver­bun­den, krei­sen stets um je ein spe­zi­fi­sches Haupt­the­ma, zu des­sen Erör­te­rung sie einen Bei­trag dar­stel­len. Die­se Haupt­the­men (oder The­men­krei­se) wer­den durch die Titel der ein­zel­nen Bän­de der älte­ren Aus­ga­be bezeich­net. Auf die­se Aus­ga­be wer­den wir im fol­gen­den eingehen. 

Im ers­ten Band, «Il mate­ria­lis­mo sto­ri­co e la filoso­fia di Bene­det­to Cro­ce», gibt Gramsci eini­ge grund­sätz­li­che Hin­wei­se, wel­che Bedin­gun­gen er an die Phi­lo­so­phie stellt. Er erklärt, dass der Katho­li­zis­mus «das Pro­blem, die ideo­lo­gi­sche Ein­heit im gan­zen sozia­len Block zu bewah­ren», in der Ver­gan­gen­heit mit­tels des Kle­rus gut lösen konn­te. Dabei habe der Katho­li­zis­mus jedoch die unte­ren Schich­ten in der Igno­ranz belas­sen. Für Gramsci dage­gen kann eine eigent­li­che Phi­lo­so­phie nur jene sein, die «nie ver­gisst, im Kon­takt mit den ‘Ein­fa­chen’ zu blei­ben und die in die­sem Kon­takt den Ursprung der zu stu­die­ren­den und zu lösen­den Pro­ble­me findet». 

Die Par­tei als Elite

Nach­dem Gramsci hin­ge­wie­sen hat auf die «Wich­tig­keit und Bedeu­tung, die die Par­tei­en in der moder­nen Welt bei der Aus­ar­bei­tung und Ver­brei­tung von Welt­an­schau­un­gen haben, inso­fern als sie im wesent­li­chen die die­sen kon­for­me Ethik und Poli­tik aus­ar­bei­ten», fol­gert er: 

«Des­halb kann man sagen, dass die Par­tei­en die Aus­ar­bei­ter der neu­en inte­gra­len und tota­li­tä­ren lntel­li­gen­ti­en sind, das heisst der Schmelz­tie­gel der Ver­ei­ni­gung von Theo­rie und Pra­xis, ver­stan­den als rea­ler geschicht­li­cher Prozess.» 

Für Gramsci ist die Par­tei eine «éli­te, in wel­cher die in der mensch­li­chen Akti­vi­tät impli­zier­te Kon­zep­ti­on schon in einem gewis­sen Mass aktu­el­les kohä­ren­tes und sys­te­ma­ti­sches Bewusst­sein und genau­er, ent­schie­de­ner Wil­le gewor­den ist». 

«Tota­li­tär»: Gramsci selbst gebraucht die­sen Aus­druck in den obi­gen Aus­füh­run­gen. Man wird an ihn erin­nert, wenn Gramsci davon spricht, wie in einem spä­te­ren Zeit­punkt, nach der Über­win­dung des bür­ger­li­chen Staa­tes, die Aus­wahl zwi­schen gesell­schaft­lich rele­van­ten und nur indi­vi­du­el­len Denk­an­stös­sen getrof­fen wer­den soll: 

«Es ist im übri­gen nicht unmög­lich zu den­ken, dass die indi­vi­du­el­len initia­ti­ven dis­zi­pli­niert und geord­net wer­den, in der Wei­se, dass sie zuerst durch das Sieb der Aka­de­mien und kul­tu­rel­len Insti­tu­te ver­schie­de­ner Art gehen und erst, nach­dem sie selek­tio­niert wor­den sind, öffent­lich werden.» 

Damit hebt Gramsci die Mög­lich­keit der frei­en Urteils­bil­dung auf; der Staat bevor­mun­det das öffent­li­che Bewusstsein. 

Volk und Nation 

Auf die erwähn­te Wich­tig­keit der Ver­bin­dung mit den nie­de­ren Schich­ten kehrt Gramsci wie­der­holt zurück, so zum Bei­spiel wenn er fest­stellt: «Man macht nicht politica/storia [Politik/Geschichte] ohne die­se Lei­den­schaft, das heisst ohne die­se gefühls­mäs­si­ge Ver­bin­dung zwi­schen Intel­lek­tu­el­len und popo­lo-nazio­ne [Volk/Nation].» 

Die­ses Zitat soll uns aber auch in einem ande­ren Sin­ne inter­es­sie­ren: in ihm taucht der Begriff «popo­lo-nazio­ne» auf, den Gramsci in sei­nen Erör­te­run­gen immer wie­der gebraucht und der gleich­zei­tig eine jener manch­mal etwas unschar­fen Wort­ver­bin­dun­gen ist, wie er sie ger­ne gebraucht und die einem Bedürf­nis nach natur­haf­ten Begrif­fen zu ent­sprin­gen schei­nen. Eine gan­ze Rei­he davon fin­det sich in fol­gen­der Stel­le, wo Gramsci, von den Volks­ge­füh­len spre­chend, sagt:

«Die Kennt­nis und die Beur­tei­lung der Wich­tig­keit sol­cher Gefüh­le geschieht von sei­ten der Füh­rer nicht mehr durch Intui­ti­on, gestützt auf die Iden­ti­fi­ka­ti­on sta­tis­ti­scher Geset­ze, das heisst auf ratio­na­lem und intel­lek­tu­el­lem, zu oft trü­ge­ri­schem Weg – die der Füh­rer in Ideen/Kraft [idee-for­za], in Worte/Kraft [paro­le-for­za] über­setzt –, son­dern sie geschieht von sei­ten des kol­lek­ti­ven Orga­nis­mus durch ‘akti­ve und bewuss­te Teil­nah­me’, durch ‘Mit­lei­den­schaft­lich­keit’, durch Erfah­rung der unmit­tel­ba­ren Ein­zel­hei­ten, durch ein Sys­tem, das man das der ‘leben­di­gen Phi­lo­lo­gie’ nen­nen könn­te. So bil­det sich ein enges Band zwi­schen gros­ser Mas­se, Par­tei, füh­ren­der Grup­pe, und der gan­ze Kom­plex, gut arti­ku­liert, kann sich bewe­gen als ‘Mensch/Kollektiv’ (‘uomo-col­let­tivo’).» 

Die Intel­lek­tu­el­len

Nun, die Bezeich­nung des intel­lek­tu­el­len Weges als «trü­ge­risch» mutet selt­sam an – wobei zudem das Bild eines mono­li­thisch sich bewe­gen­den staat­li­chen Gan­zen unlieb­sa­me Asso­zia­tio­nen weckt (und auch der Aus­druck «tota­li­tär» stellt sich in der Erin­ne­rung wie­der ein). 

In den Bereich der natur­haf­ten Begrif­fe gehört auch der des «orga­ni­schen Intel­lek­tu­el­len», den Gramsci im zwei­ten Band, «Gli intel­let­tua­li e l’organizzazione del­la cul­tu­ra», dar­legt:

«Jede gesell­schaft­li­che Grup­pe, ent­ste­hend auf dem ursprüng­li­chen Feld einer wesent­li­chen Funk­ti­on in der Welt der wirt­schaft­li­chen Pro­duk­ti­on, schafft sich gleich­zei­tig, in orga­ni­scher Wei­se, eine oder meh­re­re Schich­ten von Intel­lek­tu­el­len, die ihr Homo­ge­ni­tät und Bewusst­sein der eige­nen Funk­ti­on nicht nur auf wirt­schaft­li­cher Ebe­ne, son­dern auch auf sozia­ler und poli­ti­scher gibt: der kapi­ta­lis­ti­sche Unter­neh­mer schafft mit sich den Tech­ni­ker der Indus­trie, den Wis­sen­schaf­ter der poli­ti­schen Öko­no­mie, den Orga­ni­sa­tor einer neu­en Kul­tur, eines neu­en Rechts usw.» 

Gramsci ana­ly­siert in die­sem zwei­ten Band der «Qua­der­ni» die Rol­le der Intel­lek­tu­el­len in der Geschich­te Ita­li­ens und arbei­tet her­aus, was er die «kos­mo­po­li­ti­sche Funk­ti­on der ita­lie­ni­schen Intel­lek­tu­el­len» nennt. Wäh­rend in ande­ren Län­dern die Intel­lek­tu­el­len Trä­ger eines natio­na­len Bewusst­seins wur­den, sind sie in Ita­li­en in der Gegen­re­for­ma­ti­on von der Kir­che auf­ge­so­gen wor­den. Der Bereich ihrer Auf­merk­sam­keit war daher nicht Ita­li­en, son­dern das gan­ze christ­li­che Euro­pa; daher ihre «kos­mo­po­li­ti­sche Funktion». 

Ver­pass­te Chance 

Refle­xio­nen über die Epo­che von Renais­sance und Gegen­re­for­ma­ti­on fin­den sich auch im drit­ten Band, «Il Risor­gi­men­to». Gramsci wen­det sich gegen eine Ein­schät­zung der Renais­sance als pro­gres­si­ve Bewe­gung. Wirk­lich pro­gres­siv wäre sie für ihn nur gewe­sen, wenn das Bür­ger­tum die Not­wen­dig­keit der Schaf­fung eines natio­na­len Staa­tes erkannt hät­te. Die Erkennt­nis die­ser Not­wen­dig­keit macht für Gramsci die Grös­se Machia­vel­lis aus.

Die erwähn­te «kos­mo­po­li­ti­sche Funk­ti­on der ita­lie­ni­schen Intel­lek­tu­el­len» bezeich­net Gramsci auch als eine der Ursa­chen für die Schwä­che des natio­na­len Bewusst­seins vie­ler Intel­lek­tu­el­ler wäh­rend des Risor­gi­men­to. (Mit die­sem Begriff wer­den die ita­lie­ni­schen Eini­gungs­be­stre­bun­gen des 19. Jahr­hun­derts bezeichnet.) 

Für vie­le Pro­ble­me des geein­ten Ita­li­en sieht Gramsci die Ursa­che bereits im Risor­gi­men­to. An die­sem waren nur die obe­ren Klas­sen inter­es­siert gewe­sen, und über­dies war es zu gros­sen Tei­len von aus­sen­po­li­ti­schen Ereig­nis­sen deter­mi­niert wor­den. Die Mög­lich­keit, brei­te Mas­sen am Risor­gi­men­to zu inter­es­sie­ren, hät­te laut Gramsci bestan­den: Dazu hät­te die Par­tei Gari­bal­dis die Rol­le des Jako­bi­nis­mus spie­len und die Agrar­fra­ge stel­len müs­sen, um die länd­li­chen Mas­sen zu mobi­li­sie­ren. Durch die­se Mobi­li­sa­ti­on wäre das Volk selbst der Prot­ago­nist des Risor­gi­men­to gewor­den. So aber blieb die­ses die Ange­le­gen­heit eines klei­nen Krei­ses. Das Risor­gi­men­to erscheint damit als eine der ver­pass­ten Gele­gen­hei­ten der ita­lie­ni­schen Geschich­te, als ein Moment. wo die Chan­ce, ein moder­ner Staat mit brei­ter Mas­sen­ba­sis zu wer­den, ver­tan wurde. 

Um den Fra­gen­kreis des moder­nen Staa­tes geht es auch im vier­ten Band, «Note sul Mac­chia­vel­li, sul­la poli­ti­ca e sul­lo sta­to moder­no». Gramsci ver­steht die Figur des Fürs­ten bei Machia­vel­li als einen poli­ti­schen Mythos, eine kon­kre­te Per­son als zen­tra­len Punkt, in dem sich die poli­ti­schen Kräf­te ver­ei­nen soll­ten, die in jener gege­be­nen Situa­ti­on den natio­na­len (und somit moder­nen) Staat hät­ten begrün­den können. 

Was damals der Fürst, ist für Gramsci in der Gegen­wart die Partei: 

«Der moder­ne Fürst, der Mythos-Fürst, kann nicht eine rea­le Per­son sein, ein kon­kre­tes Indi­vi­du­um, er kann nur ein Orga­nis­mus sein, ein kom­ple­xes Ele­ment von Gesell­schaft, in wel­chem das sich Kon­kre­ti­sie­ren eines aner­kann­ten kol­lek­ti­ven und teil­wei­se durch die Akti­on bestä­tig­ten Wil­lens bereits begon­nen hat. Die­ser Orga­nis­mus ist von der geschicht­li­chen Ent­wick­lung bereits gege­ben; es ist die poli­ti­sche Par­tei: die ers­te Zel­le, in wel­cher die Kei­me kol­lek­ti­ven Wil­lens, wel­che dazu ten­die­ren, uni­ver­sel­le und tota­le zu wer­den, sich zusammenfassen.» 

Gramsci wen­det sich im Band zu Machia­vel­li auch Pro­ble­men der Ideo­lo­gie zu, wobei er das für ihn wesent­li­che Kon­zept der «Hege­mo­nie» aus­ar­bei­tet. Er spricht von einer Pha­se der Kon­fron­ta­ti­on der «Par­tei» gewor­de­nen Ideo­lo­gien, in wel­cher eine dazu ten­diert, die Ober­hand zu behal­ten, «nebst der Einig­keit der öko­no­mi­schen und poli­ti­schen Zie­le auch die intel­lek­tu­el­le und mora­li­sche Ein­heit bestim­mend, indem sie alle Fra­gen, um die der Kampf tobt, nicht nur auf eine kor­po­ra­ti­ve, son­dern auf eine ‘uni­ver­sel­le’ Ebe­ne stellt und so die Hege­mo­nie einer wesent­li­chen gesell­schaft­li­chen Grup­pe über eine Rei­he von unter­ge­ord­ne­ten Grup­pen schafft».

Im fünf­ten Band der «Qua­der­ni» mit dem Titel «Let­te­ra­tura e vita nazio­na­le» kommt Gramsci auf die Lite­ra­tur zu spre­chen. Er stellt das Feh­len einer volks­tüm­li­chen ita­lie­ni­schen Natio­nal­li­te­ra­tur ent­spre­chend der fran­zö­si­schen fest, und er sieht den Grund dazu im man­geln­den Ein­ge­hen auf die unte­ren Volks­schich­ten. Kate­go­risch erklärt er:

«Jede intel­lek­tu­el­le Bewe­gung wird oder wird wie­der natio­nal, wenn ein ‘Gang zum Volk’ [anda­ta al popo­lo] erfolgt ist.» 

Für den «Gang zum Volk» eig­net sich dabei laut Gramsci ins­be­son­de­re der Fort­set­zungs­ro­man in Zeit­schrif­ten. Dies Behar­ren auf soge­nannt volks­tüm­li­chen Lite­ra­tur­for­men und auf der Not­wen­dig­keit des «Gan­ges zum Volk» dien­te in der Nach­kriegs­zeit oft als Begrün­dung für den unbrauch­bars­ten sozia­lis­ti­schen Rea­lis­mus . . . Die Lek­tü­re die­ses fünf­ten Ban­des der «Qua­der­ni» ist ent­täu­schend, nicht nur wegen des aus­gie­bi­gen Ein­ge­hens auf völ­lig unwich­ti­ge Schrift­stel­ler, son­dern mehr noch wegen des Feh­lens von Hin­wei­sen auf die­je­ni­gen Schrift­stel­ler, deren Erwäh­nung man erwar­ten könn­te. Hier wird eine bestimm­te Beschrän­kung von Gramscis Blick­win­kel sicht­bar. Kein ein­zi­ger Hin­weis fin­det sich etwa auf die rus­si­sche Avant­gar­de oder die deut­sche Lite­ra­tur der Zeit — bei­des erstaun­lich, da Gramsci bei­de Spra­chen kann­te und in Wien wie auch in Mos­kau wohl die dor­ti­gen Dis­kus­sio­nen um die Kunst mit­er­lebt hat­te. Die ita­lie­ni­schen Futu­ris­ten erwähnt er zwar, lehnt sie aber – als nicht volks­tüm­lich, son­dern intel­lek­tu­ell – ab. 

Der letz­te Band, «Pas­sa­to e pre­sen­te», ent­hält Auf­zeich­nun­gen zu eng begrenz­ten Pro­ble­men der Geschich­te, die für die meis­ten Leser von gerin­gem Inter­es­se sind; hier wer­den auch kei­ne The­sen auf­ge­stellt wie in den ande­ren Bänden. 

Das Ent­schei­den­de 

Die vor­lie­gen­de Dar­stel­lung der «Qua­der­ni» muss­te not­ge­drun­gen lücken­haft blei­ben und woll­te auch nicht mehr, als eini­ge ihrer wich­ti­ge­ren Gedan­ken kurz zu erläu­tern. Es stellt sich nun die Fra­ge, wie die «Qua­der­ni» heu­te in Ita­li­en gese­hen werden. 

Die KPI beruft sich für ihre Poli­tik des demo­kra­ti­schen Wegs zum Sozia­lis­mus immer wie­der auf die Refle­xio­nen Gramscis. Jedoch hat man dabei manch­mal das Gefühl, dass die­ser selek­tiv zitiert wer­de, denn trotz allen Modi­fi­ka­tio­nen steht er doch fest auf dem Boden der leni­nis­ti­schen Theo­rie, vor allem was die Pro­ble­me des Par­la­men­ta­ris­mus, des Plu­ra­lis­mus oder der Par­tei betrifft. Ent­schei­dend für die Bedeu­tung Gramscis ist aber wohl, dass er sein Augen­merk immer wie­der auf die kon­kre­ten geschicht­li­chen Bedin­gun­gen Ita­li­ens rich­te­te. Die­se Hin­wen­dung zur ita­lie­ni­schen «Pra­xis»» erklärt, wes­halb er für die KPI zum Reprä­sen­tan­ten einer wirk­lich natio­na­len Tra­di­ti­on des Mar­xis­mus wer­den konn­te, auf den sie sich gern beruft. 

Nach Gramscis Über­zeu­gung soll­te die Macht­er­grei­fung durch eine leni­nis­ti­sche Eli­te­par­tei erfol­gen. Für die KPI heu­te steht die­se Form der Macht­er­grei­fung nicht mehr zur Dis­kus­si­on. Sie hat sich für den par­la­men­ta­ri­schen Weg ent­schie­den und garan­tiert den Par­tei­en­plu­ra­lis­mus, die Demo­kra­tie, die bür­ger­li­chen Freiheiten. 

Und Gramsci? Hin­ter der neu­en Poli­tik der KPI steht wohl nicht so sehr er, son­dern viel­mehr vor allem das Trau­ma des Sta­li­nis­mus und der Ereig­nis­se in Ungarn und der Tsche­cho­slo­wa­kei. Die KPI, in der Demo­kra­tie gross­ge­wor­den, will die Demo­kra­tie als wich­ti­ge Errun­gen­schaft auch bewah­ren. Wird sie die­sen Wil­len auch je in der Rea­li­tät des Regie­rungs­ge­schäfts bewei­sen können? 

Wie gesagt – die Fra­ge einer Regie­rungs­be­tei­li­gung der ita­lie­ni­schen Kom­mu­nis­ten dürf­te sich in Zukunft erneut stellen. 


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