National-Zeitung, Beilage NZ am Wochenende, 1. November 1975
Gefangen im Kerker des eigenen Ich
Das Leiden eines Menschen an sich selbst: Leben und Werk des Schriftstellers Cesare Pavese
Von Paul Huber
Vor 25 Jahren, am 27. August 1950, nahm sich der italienische Schriftsteller Cesare Pavese in einem Turiner Hotelzimmer mit einer Überdosis Schlafpulver das Leben So beendete er, mit 42 Jahren, auf dem Höhepunkt seines Ruhmes den Versuch, das «Handwerk des Lebens» zu erlernen, einen Versuch, dessen qualvolle Stationen, Siege und Rückfälle in seinem nun auf Deutsch neu aufgelegten Tagebuch verfolgt werden können (Cesare Pavese: Das Handwerk des Lebens, Bibliothek Suhrkamp).
Auch nach seinem Tode dauerte Paveses Beliebtheit beim italienischen Publikum an, wobei wohl nicht abzuklären ist, ob das Interesse, das ihm bis heute (und nicht nur in Italien) begegnet, sich mehr auf seine Person oder sein Werk bezieht. Zwischen den beiden besteht bei Pavese eine enge Beziehung, nicht nur insofern, als persönlich Erlebtes sich in seinen Büchern wiederfindet, sondern auch in dem Sinne, dass Pavese den Akt des Schreibens als Akt der Lebensmeisterung, ja als Lebensersatz verstand. Das Schreiben bedeutete ihm ein Mittel, der Einsamkeit zu entrinnen, unter der er einesteils litt, die er aber anderseits auch eifersüchtig verteidigte, wozu ihm wiederum das Schreiben diente; «Es ist schön, zu schreiben, weil das die beiden Freuden in sich vereint: allein reden, und zu einer Menge reden», notiert er am 4. Mai 1946.
Dieser Widerspruch — Isolation und Suche nach Kontakt — bildete den Grundton in Paveses Verhältnis zu seiner Umwelt, vor allem aber in seinem Verhältnis zu den Frauen, denen gegenüber er stets zwischen der Pose stolzer Einsamkeit und der Forderung nach absoluter Zuneigung schwankte. Im Grund erhoffte sich Pavese von der Beziehung zu einer Frau einen Ausweg aus seiner Isolation, die Herstellung einer Beziehung zur Wirklichkeit. Aber diese Hoffnung war zu ausschliesslich, zu absolut, und eine Rückweisung führte Pavese immer wieder zu den Selbstanklagen, die man auf vielen Seiten seines Tagebuchs findet.
Dieses Tagebuch hat im übrigen zum Teil schwer deutbare Passagen, zu deren besserem Verständnis ein näheres Eingehen auf Paveses Leben und Werk dienen mag.
Verbannung
Pavese wurde am 9. September 1908 in San Stefano Belbo geboren, einem kleinen Dorf im Piemont, wo die Familie jeweils den Sommer verbrachte und wohin Pavese auch später im Sommer immer wieder zurückkehrte. Der Vater, der in Turin beim Gericht arbeitete, starb, als der Knabe sechs Jahre alt war; Cesare wuchs auf mit seiner schweigsamen Mutter und der um sechs Jahre älteren Schwester, bei deren Familie er später bis zu seinem Tode wohnte.
Seine Jugendfreunde hatte Pavese im Kreis der jungen Turiner Antifaschisten, unter ihnen Leone Ginzburg und Giulio Einaudi, in dessen neugegründetem Verlag Pavese einer der wichtigsten Mitarbeiter wurde. Als die Faschisten einige Mitglieder dieses Kreises verhafteten, war auch Pavese darunter; er wurde zu drei Jahren Verbannung verurteilt, nach einem Jahr Aufenthalt in Brancaleone Calabro (Kalabrien) jedoch 1936 begnadigt. Bei seiner Rückkehr erfuhr Pavese, dass sich die Frau, zu der er vor der Abreise Zuneigung fasste, während seiner Abwesenheit verheiratet hatte. Sein Tagebuch gibt Zeugnis davon, wie tief ihn dieses Ereignis traf: Selbstbeschuldigungen lösen sich ab mit Anklagen gegen die Frau, mit Selbstmordgedanken und Gedanken über den Mord aus Eifersucht, in einem Hexenkreis, aus dem Pavese keinen Ausweg fand und den er nie löste, sondern gegen den er anschrieb, um das Problem zu überdecken. Aber dieselbe Wunde sollte noch mehrmals aufbrechen, bis zum letzten, entscheidenden Mal.
Es ist auffallend, dass die Frauen, die Pavese liebt, im Tagebuch keine Konturen annehmen, nie als lebendige Personen hervortreten. Pavese beschreibt nur seine Reaktion auf sie, seine Gemütszustände, in die er durch sie gerät, seine Krisen. Dieser selbstbezogenen Perspektive entspricht, was er kurz vor seinem Tod in sein Tagebuch notiert: «Man tötet sich nicht aus Liebe für eine Frau. Man tötet sich, weil eine Liebe, irgendeine Liebe, uns in unserer Nacktheit enthüllt, in unserem Elend, unserer Wehrlosigkeit, unserem Nichts.» (25. März 1950.)
Das Tagebuch ist ein extremes Beispiel innerer Analyse. Mit grausam ehrlichem Auge tritt Pavese sich selbst und seinen Schwächen gegenüber, wobei er — von der Warte eines zweiten Ich — sich selbst als Du anredet. Seine Beschränkung auf sich selbst, auf das eigene Leiden, ist dabei umfassend und betrifft nicht nur die Frauen; vergeblich sucht man in seinem Tagebuch etwa Hinweise auf die schwerwiegenden geschichtlichen Ereignisse, die gleichzeitig abrollten (das Tagebuch dauert von 1935 bis 1950). Was sich darin jedoch findet, sind Hinweise auf sein Werk.
Erste Arbeiten
Die ersten Arbeiten, mit denen Pavese an die Öffentlichkeit trat, waren Übersetzungen amerikanischer Romane (Melville, Dos Passos, Sinclair Lewis, Sherwood Anderson). Auf diese Weise entdeckte er jene nordamerikanische Literatur, die während des Faschismus auch anderen italienischen Schriftstellern, allen voran Elio Vittorini, zum Vorbild wurde.
Seine frühen eigenen Versuche hingegen machte Pavese nicht auf dem Feld des Romans, sondern der Poesie: 1936 erschien sein Gedichtband «Lavorare stanca» («Arbeiten ermüdet»). Die darin enthaltenen Gedichte sind literarisch kaum befriedigend, jedoch interessant für die Entwicklung von Paveses Werk, denn sie enthalten in der Art eines Themenkatalogs beinahe alle Themen seiner späteren Arbeiten: die Hügel des Piemont, die Landschaft als Symbol und Mythos, die Peripherie der Stadt, aber auch den einsamen Menschen, den Mörder, den Selbstmörder.
Seinen ersten Roman veröffentlichte Pavese 1939: «Paesi tuoi» («Unter Bauern»). Der aus der Haft entlassene Bertogeht auf den Hof des Vaters von Talino, eines mit ihm entlassenen Häftlings, der ihm dort etwas Arbeit verspricht. Berto beginnt eine Beziehung zu Talinos Schwester Gisella, von der er erfährt, dass ihr Bruder sie einst vergewaltigt hat. Die Spannung auf dem Hof wird grösser, bis Berto zum Schluss Zeuge ist, wie Gisella von ihrem Bruder ermordet wird. Thema des Romans sind nicht nur diese Ereignisse, sondern ist auch die Landschaft, die Berto immer wieder betrachtet und die die Bedeutung eines Symbols erhält. Gerade in diesen Teilen jedoch wirkt der Roman gezwungen, vor allem in der Symbolik der «Brustwarze», eines so genannten Hügels, den Berto immer wieder als Erkennungszeichen in der Landschaft erblickt.
Vorher hatte Pavese bereits einen anderen Roman geschrieben, «Il carcere» («Der Kerker»), der aber erst 1948 veröffentlicht wurde. In diesem Roman — wir werden auf ihn zurückkommen — fand Pavese bereits eine Freiheit der Darstellung, die von übertriebener Symbolik der Landschaft absah und in der um so mehr seine Sensibilität für das Innenleben seiner Figuren zur Geltung kam. Gleiches gilt für den 1941 veröffentlichten Kurzroman «La spiaggia» («Der Strand»). Während eines Ferienaufenthaltes am Meer, zusammen mit anderen Bekannten, ist der Erzähler Zeuge der seltsam distanzierten Beziehung zwischen seinem Jugendfreund und dessen Ehefrau, sowie ihrer Versuche, ihre Autonomie voreinander zu bewahren. Die Frau spielt dabei oberflächlich mit einem in sie verliebten Jugendlichen, der wiederum durch die Liebe zu ihr die Welt der Erwachsenen begreifen lernt, einen Reifungsprozess durchlebt. Aber auch für den Freund und dessen Frau geht mit diesem Meeresaufenthalt endgültig die Jugend zu Ende: Die Frau stellt fest, dass sie schwanger ist, worauf sie mit ihrem Mann — nunmehr endgültig ein aneinander gebundenes Ehepaar — in die Stadt zurückkehrt und die ganze übrige Gesellschaft sich zerstreut.
Pavese zeigt in der Darstellung des bürgerlichen Milieus dieser Personen grosses Einfühlungsvermögen; nicht zufällig hat der italienische Kritiker Leone Piccioni den Roman in Zusammenhang mit den mondänen Romanen Scott Fitzgeralds gebracht, obwohl dessen Name nie unter den von Pavese genannten amerikanischen Autoren erscheint.
Mythos …
Als nächste Veröffentlichung Paveses erschien 1945 ein Band Erzählungen, die in den vorausgegangenen Jahren entstanden waren: «Feria d’agosto» («Augustferien»). Wie der Gedichtband befriedigen diese Erzählungen literarische Ansprüche nicht ganz, sondern sind eher als Vorbereitung auf die späteren Werke zu betrachten. Die Sammlung ist eine etwas heterogene Mischung, in der sich Erzählungen finden, daneben aber auch Aufsätze, in denen Pavese erstmals die Problematik thematisiert, die ihn künftig beschäftigen sollte: das Wesen und die Funktion der Mythen. Die Mythen verstand Pavese als eine Art der Welterfassung, welche derjenigen des Kindes gleicht, das auch ein Objekt stellvertretend für alle sehen kann. Die Suche nach dem Wesen der Mythen verband sich für Pavese stets mit der Suche nach den Mythen der Kindheit, deren Ans-Licht-Heben nach ihm die Stärke und Tiefe des Schriftstellers ausmacht.
Während seine Freunde in die Resistance gingen, zog sich Pavese auf diese Art in sich selbst zurück, ohne ein Engagement einzugehen. Etwa gleichzeitig machte er eine religiöse Erfahrung, von der man im Tagebuch Spuren findet, die aber nicht lange andauerte. Nach Kriegsende rissen dann die allgemeine Begeisterung ob der errungenen Freiheit und die rege politische Tätigkeit eine Zeitlang auch Pavese mit und schienen ihm in der Übernahme sozialer Verantwortung eine Möglichkeit zu zeigen, der Selbstbezogenheit und Isolation zu entrinnen. Er trat der Kommunistischen Partei bei, schrieb Artikel für die Parteizeitung «L’Unità», nahm an Versammlungen und Diskussionen mit Arbeitern teil.
… und Engagement
Aus dieser Erfahrung ist der 1947 erschienene Roman «Il compagno» («Der Kamerad») entstanden, die Geschichte eines müssiggehenden Kleinbürgers, der ein politisches Bewusstsein zu entwickeln beginnt, sich gleichzeitig von einer Geliebten mit unstetem Lebenswandel trennt und mit einfachen Genossen politisch arbeitet. Der Roman bezeugt dabei, wie wenig wohl Paveses politisches Engagement einer tieferen Überzeugung entsprang; während die Geliebte mit Sensibilität und Verständnis gezeichnet ist, erinnern die Arbeiter und kommunistischen intellektuellen in ihren politischen Gesprächen peinlich an die gezwungen optimistischen Figuren des Sozialistischen Realismus.
Gleichlaufend mit dem politischen Engagement ging auch Paveses Auseinandersetzung mit den Mythen weiter, als deren Resultat im gleichen Jahr des «Compagno» die «Dialoghi con Leucò» («Dialoge mit Leuko») erschienen. In diesem Buch wendet sich Pavese extrem von jedem direkten Bezug zur Realität ab: In einer Reihe von Zwiegesprächen reden Figuren der griechischen Mythologie über die Menschen und die Götter, über Leben und Tod, über Schicksal und Freiheit. Es sind Gespräche voller Melancholie, in deren Zentrum immer wieder das Problem des Schicksals und seiner Unausweichlichkeit steht.
Paveses Beschäftigung mit den Mythen fand auch in der Verlagsarbeit ihren Niederschlag. Bei Einaudi war Pavese, zusammen mit dem Ethnologen Ernesto de Martino, Direktor der Buchreihe «Etnologia», in der unter anderem zum Beispiel die Werke Kerenyis dem italienischen Publikum zugänglich gemacht wurden.
Kerker der Einsamkeit
Im Verlag Einaudi war Pavese mittlerweile eine der wichtigsten Personen, «Diktator», wie er im Tagebuch schreibt. Mit der Veröffentlichung seines nächsten Werkes (1948) fand er dann auch in der literarischen Welt volle Anerkennung. Es war der Doppelband «Prima che il gallo canti» («Da er noch redete, krähte der Hahn»), mit den beiden Romanen «Il carcere» und «La casa in collina» («Das Haus auf der Höhe»).
«Il carcere», wie erwähnt bereits 1938/39 geschrieben, ist die Geschichte des Norditalieners Stefano, der in Kalabrien ein Jahr Verbannung verbringt. Stefano empfindet nach der Entlassung aus dem Kerker die Verbannung zuerst als Freiheit, doch wird ihm bald bewusst, dass sich sein Zustand der Angst und der Einsamkeit nicht verändert. Den wahren Kerker trägt er dauernd mit sich: die Wände des eigenen Ich. Die Nachricht von seiner Begnadigung berührt ihn daher nicht mehr, da sich nichts verändern wird. Über den Tatbestand der Verbannung hinaus ist «Il carcere»damit ein Roman über die psychische Isolation und Einsamkeit eines Menschen, dem es nicht gelingt, mit der Umwelt in Beziehung zu treten.
Aus dem Kreis des eigenen Ich herauszutreten, dies schafft auch Corrado nicht, der Protagonist des Romans «La casa in collina». Während einer Turiner Bombennacht, die er in Sicherheit in einem Haus auf der Höhe eines Hügels verbringt, stösst Corrado auf Cate, seine ehemalige Geliebte, die er einst rüde hat sitzen lassen. Sein Versuch, durch sie den Faden seiner Vergangenheit wieder aufzunehmen und einen neuen Anschluss ans Leben zu gewinnen, bleibt unbeantwortet. Cate ist mittlerweile erwachsen und selbständig geworden und hat nur Mitleid für ihn übrig. Von dem Sohn, den sie hat, wird er nie erfahren, ob es der seine ist. Cate, die im Untergrund arbeitet, wird verhaftet und nach Deutschland deportiert. Aus Angst, ebenfalls verhaftet zu werden, flieht Corrado in ein Kloster. Als auch Cates Sohn hier eintrifft, gibt Corrado vor, ihn nicht zu kennen. Während der Junge zu den Partisanen, Cates Leuten, flieht, macht sich Corrado auf den Weg in sein Heimatdorf, zu seinen Eltern und zu seiner Schwester. Aber auch dort, in der Landschaft seiner Kindheit, hat der Krieg den Frieden gebrochen. Schonungslos legt Pavese in diesem Roman sein eigenes Verhalten während Krieg und Résistance dar und klagt seine Feigheit an.
1949 erschien «La bella estate» («Der schöne Sommer»), ein Band, der drei Romane Paveses enthielt: «La bella estate», «Il diavolo sulle colline» («Der Teufel auf den Hügeln») und «Tra donne sole» («Die einsamen Frauen»).
Der schöne Sommer …
«La bella estate», geschrieben bereits 1940, beschreibt einen Sommer im Leben des Mädchens Ginia, das die Liebe entdeckt, gleichzeitig aber die Demütigung und den Verrat durch den Mann, den sie liebt. Es ist ein Sommer, in dem das Mädchen den Schritt zum Erwachsensein macht, was für Pavese heisst: zur Illusionslosigkeit, zur Einsamkeit.
«Il diavolo sulle colline», mehr noch als «La spiaggia», ruft die Romane Scott Fitzgeralds in Erinnerung; auch in ihm geht es um Charakter und Lebensart der mondänen Reichen: Drei Studenten treffen auf ihren nächtlichen Streifzügen durch Turin auf Poli, den kokainsüchtigen Sohn eines Mailänder industriellen, und verbringen mit ihm einige Tage und Nächte. Nachdem Poli von einer Geliebten angeschossen worden ist, treffen ihn die drei wieder in einem Landhaus, in dessen Nähe sie ihre Ferien verbringen. Poli lebt hier zusammen mit seiner Frau, von der er vorher getrennt gewesen war, und die ihm jetzt wieder auf die Beine helfen soll. Poli, der plötzlich versucht, tiefere Wahrheiten über das Leben zu finden, bleibt dabei selbstherrlich und lebensunfähig wie vorher. Seine Frau flirtet unterdessen oberflächlich mit Oreste, einem der drei Studenten. Unbekümmert um ihr Tun kehren Poli und seine Frau am Ende in die Stadt zurück.
Der Gegensatz zwischen der Welt von Poli und der Welt der Studenten findet seine Fortsetzung im Gegensatz zwischen Stadt und Land; in der Landschaft, der Erde, den Feldern will der Erzähler, einer der Studenten, immer wieder einen festen Punkt finden — die Beziehung zur Landschaft soll jene Sicherheit geben, die in der Beziehungslosigkeit der Menschen verloren gegangen ist.
Der dritte Roman des Bandes, «Tra donne sole», ist wohl das vollendetste Werk Paveses. Clelia, eine Frau, die sich aus ärmlichen Verhältnissen hochgearbeitet hat, kehrt im Winter in ihre Heimatstadt Turin zurück, wo sie die Eröffnung einer Filiale des Modegeschäftes, für das sie in Rom arbeitet, überwachen soll. Gleich am ersten Abend im Hotel wird sie durch einen Türspalt Zeuge, wie ein Mädchen davongetragen wird, das in einem der Zimmer einen Selbstmordversuch gemacht hat. Clelia wird das Mädchen, Rosetta, später selbst kennenlernen, und mit ihr deren Freundin, die zynische Momina, sowie einen ganzen Kreis von weiteren Mädchen aus der gehobenen Gesellschaft Turins, in die sie nun Eingang gefunden hat.
Angesichts der Beziehungslosigkeit und Sinnlosigkeit des Lebens dieser Frauen sagt sich Clelia, dass sie anders sei, selbständig, unabhängig auch von einem Mann. Aber sie ist sich bewusst, dass dies nicht reicht, um dem Leben einen Sinn zu geben, den Sinn, auf dessen Suche hier alle sind.
Der Roman endet mit dem nun endgültigen Selbstmord Rosettas, auf den die ganze Handlung hintendierte, ja in dem sie sich erst erfüllt; nachträglich wird dem Leser bewusst, dass der Roman gar kein anderes Thema hatte als diesen Selbstmord, der stets in der Luft lag.
Freiheit? Schicksal!
Paveses Sprache hat einen seltsam melancholischen Rhythmus, der ganz der Intention entspricht, eher eine Stimmung als eine Handlung auszudrücken. In diesem Sinn hat Pavese in einem Essay, über sich selbst in der dritten Person sprechend, einmal gesagt: «Das, was er im Sinn hat, ist fast immer nur ein unbestimmter Rhythmus, ein Spiel von Ereignissen, die, vor allen Dingen, Empfindungen und Stimmungen sind. Seine Aufgabe besteht darin, diese Ereignisse zu erfassen und sie nach einem intellektuellen Rhythmus zu ordnen, der sie in Symbole einer gegebenen Realität verwandelt…».
Die Handlung ist für Pavese zweitrangig. Zwar gibt es einen Handlungsablauf, aber seine Stationen scheinen seltsam vorherbestimmt und unausweichlich. In ihnen beweisen die Personen nicht ihre freie Entscheidung, sondern scheinen nur noch zu vollziehen, was vorgegeben ist: ihr Schicksal. Diese Konzeption entspricht Paveses psychologischem Determinismus, wonach alles früh vorherbestimmt ist und sich unausweichlich ereignen wird. Das Unterbewusste, das die Handlungen des Menschen unkontrollierbar, aber gesetzmässig bestimmt, lässt die Idee der freien Entscheidung als absurd erscheinen: die Psyche wird zum Schicksal.
Wo die Handlung nur noch Vollzug eines vorbestimmten Schicksals ist, da hat auch die Zeit, in der sich die Handlung abspielt, eine geringere Bedeutung, da in ihr keine eigentliche Entwicklung mehr stattfindet. Vorher und Nachher werden bei Pavese nicht mehr strikt getrennt, Vor- und Rückblenden finden sich in grosser Zahl: die Zeit wird «räumlich», geschlossen.
Eine Eigenart von Paveses Romanen liegt darin, dass die Einblicke in die Psyche der Personen dem Leser nicht von einem Erzähler vermittelt werden, sondern dass der Autor seine Figuren sich selbst darstellen lässt. Besonders «Il diavolo sulle colline» und «Tra donne sole» sind Dialog-Romane, wo sich die Personen in einem unablässigen Fluss von Rede und Gegenrede zu erkennen geben. Die Dialoge sind einer der «filmischen» Aspekte dieser Romane, und es ist nicht erstaunlich, dass Antonioni einen von ihnen, «Tra donne sole», zur Grundlage seines Films «Le amiche» gemacht hat. Einen weiteren filmischen Aspekt kann man im «schnellen Schnitt» Paveses sehen: seine Personen sind nie ruhig, sondern wechseln dauernd den Ort, treffen einander immer wieder in neuen Kombinationen und trennen sich wieder.
Mit der Veröffentlichung der Trilogie «La bella estate» erreichte Pavese den Höhepunkt seiner Berühmtheit: für diesen Band erhielt er 1950 den Premio Strega, die höchste literarische Auszeichnung Italiens.
Im gleichen Jahr veröffentlichte Pavese seinen letzten Roman, «La luna e i falò» («Der junge Mond»). Es ist die Erzählung eines Mannes, der, nachdem er sich in Amerika eine Existenz aufgebaut hat, in sein Heimatdorf im Piemont zurückkehrt, wo er einst als Waisenkind bei einer fremden Familie aufwuchs. Er versucht sich klarzuwerden über seinen Ursprung, seine Identität, die er aber auch hier, in der Rückkehr zu seiner Jugend, nicht findet. Und auch hier bleibt der einzige feste Punkt die Natur mit ihren Riten, dem regelmässigen Wechsel der Jahreszeiten, der dauernden Präsenz und Wiederkehr des Mondes und der Feuer, die jedes Jahr auf den Feldern angezündet werden.
Das Ende
Während eines Arbeitsaufenthaltes in Rom — zum Aufbau des dortigen Büros von Einaudi — traf Pavese auf die Frau, welche die letzte sein sollte: Constance Dowling, eine amerikanische Schauspielerin. Noch einmal brach Paveses Wunde auf, noch einmal verliebte er sich, bis auch diese Hoffnung sich verflüchtigte. Constance wurde für Pavese zum Brennpunkt seiner Niederlage; es war nicht diese Frau, es war die Frau, die ihm mit ihr entglitt. An Constance Dowling richtete er seine letzten Gedichte, meist einfache Verse, teils auf englisch, teils auf italienisch, darunter vor allem das Gedicht «Verrà la morte e avrà i tuoi occhi», in dem das Bild der geliebten Frau zusammenfliesst mit dem Bild des Todes und dem Gedanken an den Selbstmord, das «absurde Laster»:
Verrà la morte e avrà i tuoi occhi –
questa morte che ci accompagna
dal mattino alla sera, insonne,
sorda, come un vecchio rimorso
o un vizio assurdo. (…)
Der Tod wird kommen und wird deine Augen haben –
dieser Tod, der uns begleitet
vom Morgen bis zum Abend, schlaflos,
taub, wie ein alter Gewissensbiss
oder ein absurdes Laster. (…)
Am 26. August 1950, einem Samstag, verliess Pavese die Wohnung seiner Schwester, unter dem Vorwand, das Wochenende auf dem Land verbringen zu wollen. Er durchquerte einige Strassen und stieg in einem Hotel ab; am Abend des 27. August fand ihn dort ein Kellner tot auf seinem Bett liegen.
Der Abschied
In einem Abschiedsbrief an seinen Freund Davide Lajolo schrieb Pavese:
«Da man über meine Lieben von den Alpen bis Capo Passero redet, sage ich dir nur, dass ich, wie Cortez, die Schiffe hinter mit verbrannt habe. Ich weiss nicht, ob ich den Schatz des Montezuma finden werde, aber ich weiss, dass auf der Hochebene von Tenochtitlán Menschenopfer dargebracht werden. Seit Jahren dachte ich nicht mehr an diese Dinge, ich schrieb. Jetzt werde ich nicht mehr schreiben.»
Auch das Tagebuch, das Einblick gibt in die qualvollen letzten Wochen und Tage Paveses, schliesst mit einer Absage an das Schreiben, die gleichbedeutend ist mit der Absage an das Leben. Paveses letzte Eintragungen lauten:
«All das macht Ekel. Nicht Worte. Eine Geste. Ich werde nicht mehr schreiben.»