Cesa­re Pavese


Natio­nal-Zei­tung, Bei­la­ge NZ am Wochen­en­de, 1. Novem­ber 1975

Gefan­gen im Ker­ker des eige­nen Ich

Das Lei­den eines Men­schen an sich selbst: Leben und Werk des Schrift­stel­lers Cesa­re Pavese

Von Paul Huber

Vor 25 Jah­ren, am 27. August 1950, nahm sich der ita­lie­ni­sche Schrift­stel­ler Cesa­re Pave­se in einem Turi­ner Hotel­zim­mer mit einer Über­do­sis Schlaf­pul­ver das Leben So been­de­te er, mit 42 Jah­ren, auf dem Höhe­punkt sei­nes Ruh­mes den Ver­such, das «Hand­werk des Lebens» zu erler­nen, einen Ver­such, des­sen qual­vol­le Sta­tio­nen, Sie­ge und Rück­fäl­le in sei­nem nun auf Deutsch neu auf­ge­leg­ten Tage­buch ver­folgt wer­den kön­nen (Cesa­re Pave­se: Das Hand­werk des Lebens, Biblio­thek Suhrkamp). 

Auch nach sei­nem Tode dau­er­te Pave­ses Beliebt­heit beim ita­lie­ni­schen Publi­kum an, wobei wohl nicht abzu­klä­ren ist, ob das Inter­es­se, das ihm bis heu­te (und nicht nur in Ita­li­en) begeg­net, sich mehr auf sei­ne Per­son oder sein Werk bezieht. Zwi­schen den bei­den besteht bei Pave­se eine enge Bezie­hung, nicht nur inso­fern, als per­sön­lich Erleb­tes sich in sei­nen Büchern wie­der­fin­det, son­dern auch in dem Sin­ne, dass Pave­se den Akt des Schrei­bens als Akt der Lebens­meis­te­rung, ja als Lebens­er­satz ver­stand. Das Schrei­ben bedeu­te­te ihm ein Mit­tel, der Ein­sam­keit zu ent­rin­nen, unter der er eines­teils litt, die er aber ander­seits auch eifer­süch­tig ver­tei­dig­te, wozu ihm wie­der­um das Schrei­ben dien­te; «Es ist schön, zu schrei­ben, weil das die bei­den Freu­den in sich ver­eint: allein reden, und zu einer Men­ge reden», notiert er am 4. Mai 1946. 

Die­ser Wider­spruch — Iso­la­ti­on und Suche nach Kon­takt — bil­de­te den Grund­ton in Pave­ses Ver­hält­nis zu sei­ner Umwelt, vor allem aber in sei­nem Ver­hält­nis zu den Frau­en, denen gegen­über er stets zwi­schen der Pose stol­zer Ein­sam­keit und der For­de­rung nach abso­lu­ter Zunei­gung schwank­te. Im Grund erhoff­te sich Pave­se von der Bezie­hung zu einer Frau einen Aus­weg aus sei­ner Iso­la­ti­on, die Her­stel­lung einer Bezie­hung zur Wirk­lich­keit. Aber die­se Hoff­nung war zu aus­schliess­lich, zu abso­lut, und eine Rück­wei­sung führ­te Pave­se immer wie­der zu den Selbst­an­kla­gen, die man auf vie­len Sei­ten sei­nes Tage­buchs findet. 

Die­ses Tage­buch hat im übri­gen zum Teil schwer deut­ba­re Pas­sa­gen, zu deren bes­se­rem Ver­ständ­nis ein nähe­res Ein­ge­hen auf Pave­ses Leben und Werk die­nen mag. 

Ver­ban­nung 

Pave­se wur­de am 9. Sep­tem­ber 1908 in San Ste­fa­no Bel­bo gebo­ren, einem klei­nen Dorf im Pie­mont, wo die Fami­lie jeweils den Som­mer ver­brach­te und wohin Pave­se auch spä­ter im Som­mer immer wie­der zurück­kehr­te. Der Vater, der in Turin beim Gericht arbei­te­te, starb, als der Kna­be sechs Jah­re alt war; Cesa­re wuchs auf mit sei­ner schweig­sa­men Mut­ter und der um sechs Jah­re älte­ren Schwes­ter, bei deren Fami­lie er spä­ter bis zu sei­nem Tode wohnte. 

Sei­ne Jugend­freun­de hat­te Pave­se im Kreis der jun­gen Turi­ner Anti­fa­schis­ten, unter ihnen Leo­ne Ginz­burg und Giu­lio Ein­au­di, in des­sen neu­ge­grün­de­tem Ver­lag Pave­se einer der wich­tigs­ten Mit­ar­bei­ter wur­de. Als die Faschis­ten eini­ge Mit­glie­der die­ses Krei­ses ver­haf­te­ten, war auch Pave­se dar­un­ter; er wur­de zu drei Jah­ren Ver­ban­nung ver­ur­teilt, nach einem Jahr Auf­ent­halt in Bran­ca­leo­ne Cala­b­ro (Kala­bri­en) jedoch 1936 begna­digt. Bei sei­ner Rück­kehr erfuhr Pave­se, dass sich die Frau, zu der er vor der Abrei­se Zunei­gung fass­te, wäh­rend sei­ner Abwe­sen­heit ver­hei­ra­tet hat­te. Sein Tage­buch gibt Zeug­nis davon, wie tief ihn die­ses Ereig­nis traf: Selbst­be­schul­di­gun­gen lösen sich ab mit Ankla­gen gegen die Frau, mit Selbst­mord­ge­dan­ken und Gedan­ken über den Mord aus Eifer­sucht, in einem Hexen­kreis, aus dem Pave­se kei­nen Aus­weg fand und den er nie lös­te, son­dern gegen den er anschrieb, um das Pro­blem zu über­de­cken. Aber die­sel­be Wun­de soll­te noch mehr­mals auf­bre­chen, bis zum letz­ten, ent­schei­den­den Mal. 

Es ist auf­fal­lend, dass die Frau­en, die Pave­se liebt, im Tage­buch kei­ne Kon­tu­ren anneh­men, nie als leben­di­ge Per­so­nen her­vor­tre­ten. Pave­se beschreibt nur sei­ne Reak­ti­on auf sie, sei­ne Gemüts­zu­stän­de, in die er durch sie gerät, sei­ne Kri­sen. Die­ser selbst­be­zo­ge­nen Per­spek­ti­ve ent­spricht, was er kurz vor sei­nem Tod in sein Tage­buch notiert: «Man tötet sich nicht aus Lie­be für eine Frau. Man tötet sich, weil eine Lie­be, irgend­ei­ne Lie­be, uns in unse­rer Nackt­heit ent­hüllt, in unse­rem Elend, unse­rer Wehr­lo­sig­keit, unse­rem Nichts.» (25. März 1950.)

Das Tage­buch ist ein extre­mes Bei­spiel inne­rer Ana­ly­se. Mit grau­sam ehr­li­chem Auge tritt Pave­se sich selbst und sei­nen Schwä­chen gegen­über, wobei er — von der War­te eines zwei­ten Ich — sich selbst als Du anre­det. Sei­ne Beschrän­kung auf sich selbst, auf das eige­ne Lei­den, ist dabei umfas­send und betrifft nicht nur die Frau­en; ver­geb­lich sucht man in sei­nem Tage­buch etwa Hin­wei­se auf die schwer­wie­gen­den geschicht­li­chen Ereig­nis­se, die gleich­zei­tig abroll­ten (das Tage­buch dau­ert von 1935 bis 1950). Was sich dar­in jedoch fin­det, sind Hin­wei­se auf sein Werk. 

Ers­te Arbeiten 

Die ers­ten Arbei­ten, mit denen Pave­se an die Öffent­lich­keit trat, waren Über­set­zun­gen ame­ri­ka­ni­scher Roma­ne (Mel­vil­le, Dos Pas­sos, Sin­c­lair Lewis, Sher­wood Ander­son). Auf die­se Wei­se ent­deck­te er jene nord­ame­ri­ka­ni­sche Lite­ra­tur, die wäh­rend des Faschis­mus auch ande­ren ita­lie­ni­schen Schrift­stel­lern, allen vor­an Elio Vit­to­ri­ni, zum Vor­bild wurde. 

Sei­ne frü­hen eige­nen Ver­su­che hin­ge­gen mach­te Pave­se nicht auf dem Feld des Romans, son­dern der Poe­sie: 1936 erschien sein Gedicht­band «Lavor­a­re stanca» («Arbei­ten ermü­det»). Die dar­in ent­hal­te­nen Gedich­te sind lite­ra­risch kaum befrie­di­gend, jedoch inter­es­sant für die Ent­wick­lung von Pave­ses Werk, denn sie ent­hal­ten in der Art eines The­men­ka­ta­logs bei­na­he alle The­men sei­ner spä­te­ren Arbei­ten: die Hügel des Pie­mont, die Land­schaft als Sym­bol und Mythos, die Peri­phe­rie der Stadt, aber auch den ein­sa­men Men­schen, den Mör­der, den Selbstmörder.

Sei­nen ers­ten Roman ver­öf­fent­lich­te Pave­se 1939: «Paesi tuoi» («Unter Bau­ern»). Der aus der Haft ent­las­se­ne Ber­to­geht auf den Hof des Vaters von Tali­no, eines mit ihm ent­las­se­nen Häft­lings, der ihm dort etwas Arbeit ver­spricht. Ber­to beginnt eine Bezie­hung zu Tali­nos Schwes­ter Gisel­la, von der er erfährt, dass ihr Bru­der sie einst ver­ge­wal­tigt hat. Die Span­nung auf dem Hof wird grös­ser, bis Ber­to zum Schluss Zeu­ge ist, wie Gisel­la von ihrem Bru­der ermor­det wird. The­ma des Romans sind nicht nur die­se Ereig­nis­se, son­dern ist auch die Land­schaft, die Ber­to immer wie­der betrach­tet und die die Bedeu­tung eines Sym­bols erhält. Gera­de in die­sen Tei­len jedoch wirkt der Roman gezwun­gen, vor allem in der Sym­bo­lik der «Brust­war­ze», eines so genann­ten Hügels, den Ber­to immer wie­der als Erken­nungs­zei­chen in der Land­schaft erblickt. 

Vor­her hat­te Pave­se bereits einen ande­ren Roman geschrie­ben, «Il carce­re» («Der Ker­ker»), der aber erst 1948 ver­öf­fent­licht wur­de. In die­sem Roman — wir wer­den auf ihn zurück­kom­men — fand Pave­se bereits eine Frei­heit der Dar­stel­lung, die von über­trie­be­ner Sym­bo­lik der Land­schaft absah und in der um so mehr sei­ne Sen­si­bi­li­tät für das Innen­le­ben sei­ner Figu­ren zur Gel­tung kam. Glei­ches gilt für den 1941 ver­öf­fent­lich­ten Kurz­ro­man «La spia­g­gia» («Der Strand»). Wäh­rend eines Feri­en­auf­ent­hal­tes am Meer, zusam­men mit ande­ren Bekann­ten, ist der Erzäh­ler Zeu­ge der selt­sam distan­zier­ten Bezie­hung zwi­schen sei­nem Jugend­freund und des­sen Ehe­frau, sowie ihrer Ver­su­che, ihre Auto­no­mie vor­ein­an­der zu bewah­ren. Die Frau spielt dabei ober­fläch­lich mit einem in sie ver­lieb­ten Jugend­li­chen, der wie­der­um durch die Lie­be zu ihr die Welt der Erwach­se­nen begrei­fen lernt, einen Rei­fungs­pro­zess durch­lebt. Aber auch für den Freund und des­sen Frau geht mit die­sem Mee­res­auf­ent­halt end­gül­tig die Jugend zu Ende: Die Frau stellt fest, dass sie schwan­ger ist, wor­auf sie mit ihrem Mann — nun­mehr end­gül­tig ein anein­an­der gebun­de­nes Ehe­paar — in die Stadt zurück­kehrt und die gan­ze übri­ge Gesell­schaft sich zerstreut. 

Pave­se zeigt in der Dar­stel­lung des bür­ger­li­chen Milieus die­ser Per­so­nen gros­ses Ein­füh­lungs­ver­mö­gen; nicht zufäl­lig hat der ita­lie­ni­sche Kri­ti­ker Leo­ne Pic­cio­ni den Roman in Zusam­men­hang mit den mon­dä­nen Roma­nen Scott Fitz­ge­ralds gebracht, obwohl des­sen Name nie unter den von Pave­se genann­ten ame­ri­ka­ni­schen Autoren erscheint. 

Mythos … 

Als nächs­te Ver­öf­fent­li­chung Pave­ses erschien 1945 ein Band Erzäh­lun­gen, die in den vor­aus­ge­gan­ge­nen Jah­ren ent­stan­den waren: «Feria d’a­gos­to» («August­fe­ri­en»). Wie der Gedicht­band befrie­di­gen die­se Erzäh­lun­gen lite­ra­ri­sche Ansprü­che nicht ganz, son­dern sind eher als Vor­be­rei­tung auf die spä­te­ren Wer­ke zu betrach­ten. Die Samm­lung ist eine etwas hete­ro­ge­ne Mischung, in der sich Erzäh­lun­gen fin­den, dane­ben aber auch Auf­sät­ze, in denen Pave­se erst­mals die Pro­ble­ma­tik the­ma­ti­siert, die ihn künf­tig beschäf­ti­gen soll­te: das Wesen und die Funk­ti­on der Mythen. Die Mythen ver­stand Pave­se als eine Art der Welt­erfas­sung, wel­che der­je­ni­gen des Kin­des gleicht, das auch ein Objekt stell­ver­tre­tend für alle sehen kann. Die Suche nach dem Wesen der Mythen ver­band sich für Pave­se stets mit der Suche nach den Mythen der Kind­heit, deren Ans-Licht-Heben nach ihm die Stär­ke und Tie­fe des Schrift­stel­lers ausmacht. 

Wäh­rend sei­ne Freun­de in die Resis­tance gin­gen, zog sich Pave­se auf die­se Art in sich selbst zurück, ohne ein Enga­ge­ment ein­zu­ge­hen. Etwa gleich­zei­tig mach­te er eine reli­giö­se Erfah­rung, von der man im Tage­buch Spu­ren fin­det, die aber nicht lan­ge andau­er­te. Nach Kriegs­en­de ris­sen dann die all­ge­mei­ne Begeis­te­rung ob der errun­ge­nen Frei­heit und die rege poli­ti­sche Tätig­keit eine Zeit­lang auch Pave­se mit und schie­nen ihm in der Über­nah­me sozia­ler Ver­ant­wor­tung eine Mög­lich­keit zu zei­gen, der Selbst­be­zo­gen­heit und Iso­la­ti­on zu ent­rin­nen. Er trat der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei bei, schrieb Arti­kel für die Par­tei­zei­tung «L’U­ni­tà», nahm an Ver­samm­lun­gen und Dis­kus­sio­nen mit Arbei­tern teil. 

… und Engagement 

Aus die­ser Erfah­rung ist der 1947 erschie­ne­ne Roman «Il com­pa­g­no» («Der Kame­rad») ent­stan­den, die Geschich­te eines müs­sig­ge­hen­den Klein­bür­gers, der ein poli­ti­sches Bewusst­sein zu ent­wi­ckeln beginnt, sich gleich­zei­tig von einer Gelieb­ten mit unste­tem Lebens­wan­del trennt und mit ein­fa­chen Genos­sen poli­tisch arbei­tet. Der Roman bezeugt dabei, wie wenig wohl Pave­ses poli­ti­sches Enga­ge­ment einer tie­fe­ren Über­zeu­gung ent­sprang; wäh­rend die Gelieb­te mit Sen­si­bi­li­tät und Ver­ständ­nis gezeich­net ist, erin­nern die Arbei­ter und kom­mu­nis­ti­schen intel­lek­tu­el­len in ihren poli­ti­schen Gesprä­chen pein­lich an die gezwun­gen opti­mis­ti­schen Figu­ren des Sozia­lis­ti­schen Realismus. 

Gleich­lau­fend mit dem poli­ti­schen Enga­ge­ment ging auch Pave­ses Aus­ein­an­der­set­zung mit den Mythen wei­ter, als deren Resul­tat im glei­chen Jahr des «Com­pa­g­no» die «Dia­loghi con Leucò» («Dia­lo­ge mit Leu­ko») erschie­nen. In die­sem Buch wen­det sich Pave­se extrem von jedem direk­ten Bezug zur Rea­li­tät ab: In einer Rei­he von Zwie­ge­sprä­chen reden Figu­ren der grie­chi­schen Mytho­lo­gie über die Men­schen und die Göt­ter, über Leben und Tod, über Schick­sal und Frei­heit. Es sind Gesprä­che vol­ler Melan­cho­lie, in deren Zen­trum immer wie­der das Pro­blem des Schick­sals und sei­ner Unaus­weich­lich­keit steht. 

Pave­ses Beschäf­ti­gung mit den Mythen fand auch in der Ver­lags­ar­beit ihren Nie­der­schlag. Bei Ein­au­di war Pave­se, zusam­men mit dem Eth­no­lo­gen Ernes­to de Mar­ti­no, Direk­tor der Buch­rei­he «Etno­lo­gia», in der unter ande­rem zum Bei­spiel die Wer­ke Kere­ny­is dem ita­lie­ni­schen Publi­kum zugäng­lich gemacht wurden. 

Ker­ker der Einsamkeit

Im Ver­lag Ein­au­di war Pave­se mitt­ler­wei­le eine der wich­tigs­ten Per­so­nen, «Dik­ta­tor», wie er im Tage­buch schreibt. Mit der Ver­öf­fent­li­chung sei­nes nächs­ten Wer­kes (1948) fand er dann auch in der lite­ra­ri­schen Welt vol­le Aner­ken­nung. Es war der Dop­pel­band «Pri­ma che il gal­lo can­ti» («Da er noch rede­te, kräh­te der Hahn»), mit den bei­den Roma­nen «Il carce­re» und «La casa in col­li­na» («Das Haus auf der Höhe»)

«Il carce­re», wie erwähnt bereits 1938/39 geschrie­ben, ist die Geschich­te des Nord­ita­lie­ners Ste­fa­no, der in Kala­bri­en ein Jahr Ver­ban­nung ver­bringt. Ste­fa­no emp­fin­det nach der Ent­las­sung aus dem Ker­ker die Ver­ban­nung zuerst als Frei­heit, doch wird ihm bald bewusst, dass sich sein Zustand der Angst und der Ein­sam­keit nicht ver­än­dert. Den wah­ren Ker­ker trägt er dau­ernd mit sich: die Wän­de des eige­nen Ich. Die Nach­richt von sei­ner Begna­di­gung berührt ihn daher nicht mehr, da sich nichts ver­än­dern wird. Über den Tat­be­stand der Ver­ban­nung hin­aus ist «Il carce­re»damit ein Roman über die psy­chi­sche Iso­la­ti­on und Ein­sam­keit eines Men­schen, dem es nicht gelingt, mit der Umwelt in Bezie­hung zu treten. 

Aus dem Kreis des eige­nen Ich her­aus­zu­tre­ten, dies schafft auch Cor­ra­do nicht, der Prot­ago­nist des Romans «La casa in col­li­na». Wäh­rend einer Turi­ner Bom­ben­nacht, die er in Sicher­heit in einem Haus auf der Höhe eines Hügels ver­bringt, stösst Cor­ra­do auf Cate, sei­ne ehe­ma­li­ge Gelieb­te, die er einst rüde hat sit­zen las­sen. Sein Ver­such, durch sie den Faden sei­ner Ver­gan­gen­heit wie­der auf­zu­neh­men und einen neu­en Anschluss ans Leben zu gewin­nen, bleibt unbe­ant­wor­tet. Cate ist mitt­ler­wei­le erwach­sen und selb­stän­dig gewor­den und hat nur Mit­leid für ihn übrig. Von dem Sohn, den sie hat, wird er nie erfah­ren, ob es der sei­ne ist. Cate, die im Unter­grund arbei­tet, wird ver­haf­tet und nach Deutsch­land depor­tiert. Aus Angst, eben­falls ver­haf­tet zu wer­den, flieht Cor­ra­do in ein Klos­ter. Als auch Cates Sohn hier ein­trifft, gibt Cor­ra­do vor, ihn nicht zu ken­nen. Wäh­rend der Jun­ge zu den Par­ti­sa­nen, Cates Leu­ten, flieht, macht sich Cor­ra­do auf den Weg in sein Hei­mat­dorf, zu sei­nen Eltern und zu sei­ner Schwes­ter. Aber auch dort, in der Land­schaft sei­ner Kind­heit, hat der Krieg den Frie­den gebro­chen. Scho­nungs­los legt Pave­se in die­sem Roman sein eige­nes Ver­hal­ten wäh­rend Krieg und Résis­tance dar und klagt sei­ne Feig­heit an. 

1949 erschien «La bel­la esta­te» («Der schö­ne Som­mer»), ein Band, der drei Roma­ne Pave­ses ent­hielt: «La bel­la esta­te»«Il dia­vo­lo sul­le col­li­ne» («Der Teu­fel auf den Hügeln») und «Tra don­ne sole» («Die ein­sa­men Frau­en»)

Der schö­ne Sommer … 

«La bel­la esta­te», geschrie­ben bereits 1940, beschreibt einen Som­mer im Leben des Mäd­chens Ginia, das die Lie­be ent­deckt, gleich­zei­tig aber die Demü­ti­gung und den Ver­rat durch den Mann, den sie liebt. Es ist ein Som­mer, in dem das Mäd­chen den Schritt zum Erwach­sen­sein macht, was für Pave­se heisst: zur Illu­si­ons­lo­sig­keit, zur Einsamkeit. 

«Il dia­vo­lo sul­le col­li­ne», mehr noch als «La spia­g­gia», ruft die Roma­ne Scott Fitz­ge­ralds in Erin­ne­rung; auch in ihm geht es um Cha­rak­ter und Lebens­art der mon­dä­nen Rei­chen: Drei Stu­den­ten tref­fen auf ihren nächt­li­chen Streif­zü­gen durch Turin auf Poli, den koka­in­süch­ti­gen Sohn eines Mai­län­der indus­tri­el­len, und ver­brin­gen mit ihm eini­ge Tage und Näch­te. Nach­dem Poli von einer Gelieb­ten ange­schos­sen wor­den ist, tref­fen ihn die drei wie­der in einem Land­haus, in des­sen Nähe sie ihre Feri­en ver­brin­gen. Poli lebt hier zusam­men mit sei­ner Frau, von der er vor­her getrennt gewe­sen war, und die ihm jetzt wie­der auf die Bei­ne hel­fen soll. Poli, der plötz­lich ver­sucht, tie­fe­re Wahr­hei­ten über das Leben zu fin­den, bleibt dabei selbst­herr­lich und lebens­un­fä­hig wie vor­her. Sei­ne Frau flir­tet unter­des­sen ober­fläch­lich mit Ores­te, einem der drei Stu­den­ten. Unbe­küm­mert um ihr Tun keh­ren Poli und sei­ne Frau am Ende in die Stadt zurück. 

Der Gegen­satz zwi­schen der Welt von Poli und der Welt der Stu­den­ten fin­det sei­ne Fort­set­zung im Gegen­satz zwi­schen Stadt und Land; in der Land­schaft, der Erde, den Fel­dern will der Erzäh­ler, einer der Stu­den­ten, immer wie­der einen fes­ten Punkt fin­den — die Bezie­hung zur Land­schaft soll jene Sicher­heit geben, die in der Bezie­hungs­lo­sig­keit der Men­schen ver­lo­ren gegan­gen ist. 

Der drit­te Roman des Ban­des, «Tra don­ne sole», ist wohl das voll­endets­te Werk Pave­ses. Cle­lia, eine Frau, die sich aus ärm­li­chen Ver­hält­nis­sen hoch­ge­ar­bei­tet hat, kehrt im Win­ter in ihre Hei­mat­stadt Turin zurück, wo sie die Eröff­nung einer Filia­le des Mode­ge­schäf­tes, für das sie in Rom arbei­tet, über­wa­chen soll. Gleich am ers­ten Abend im Hotel wird sie durch einen Tür­spalt Zeu­ge, wie ein Mäd­chen davon­ge­tra­gen wird, das in einem der Zim­mer einen Selbst­mord­ver­such gemacht hat. Cle­lia wird das Mäd­chen, Roset­ta, spä­ter selbst ken­nen­ler­nen, und mit ihr deren Freun­din, die zyni­sche Momi­na, sowie einen gan­zen Kreis von wei­te­ren Mäd­chen aus der geho­be­nen Gesell­schaft Turins, in die sie nun Ein­gang gefun­den hat. 

Ange­sichts der Bezie­hungs­lo­sig­keit und Sinn­lo­sig­keit des Lebens die­ser Frau­en sagt sich Cle­lia, dass sie anders sei, selb­stän­dig, unab­hän­gig auch von einem Mann. Aber sie ist sich bewusst, dass dies nicht reicht, um dem Leben einen Sinn zu geben, den Sinn, auf des­sen Suche hier alle sind. 

Der Roman endet mit dem nun end­gül­ti­gen Selbst­mord Roset­tas, auf den die gan­ze Hand­lung hin­ten­dier­te, ja in dem sie sich erst erfüllt; nach­träg­lich wird dem Leser bewusst, dass der Roman gar kein ande­res The­ma hat­te als die­sen Selbst­mord, der stets in der Luft lag. 

Frei­heit? Schicksal! 

Pave­ses Spra­che hat einen selt­sam melan­cho­li­schen Rhyth­mus, der ganz der Inten­ti­on ent­spricht, eher eine Stim­mung als eine Hand­lung aus­zu­drü­cken. In die­sem Sinn hat Pave­se in einem Essay, über sich selbst in der drit­ten Per­son spre­chend, ein­mal gesagt: «Das, was er im Sinn hat, ist fast immer nur ein unbe­stimm­ter Rhyth­mus, ein Spiel von Ereig­nis­sen, die, vor allen Din­gen, Emp­fin­dun­gen und Stim­mun­gen sind. Sei­ne Auf­ga­be besteht dar­in, die­se Ereig­nis­se zu erfas­sen und sie nach einem intel­lek­tu­el­len Rhyth­mus zu ord­nen, der sie in Sym­bo­le einer gege­be­nen Rea­li­tät verwandelt…».

Die Hand­lung ist für Pave­se zweit­ran­gig. Zwar gibt es einen Hand­lungs­ab­lauf, aber sei­ne Sta­tio­nen schei­nen selt­sam vor­her­be­stimmt und unaus­weich­lich. In ihnen bewei­sen die Per­so­nen nicht ihre freie Ent­schei­dung, son­dern schei­nen nur noch zu voll­zie­hen, was vor­ge­ge­ben ist: ihr Schick­sal. Die­se Kon­zep­ti­on ent­spricht Pave­ses psy­cho­lo­gi­schem Deter­mi­nis­mus, wonach alles früh vor­her­be­stimmt ist und sich unaus­weich­lich ereig­nen wird. Das Unter­be­wuss­te, das die Hand­lun­gen des Men­schen unkon­trol­lier­bar, aber gesetz­mäs­sig bestimmt, lässt die Idee der frei­en Ent­schei­dung als absurd erschei­nen: die Psy­che wird zum Schicksal. 

Wo die Hand­lung nur noch Voll­zug eines vor­be­stimm­ten Schick­sals ist, da hat auch die Zeit, in der sich die Hand­lung abspielt, eine gerin­ge­re Bedeu­tung, da in ihr kei­ne eigent­li­che Ent­wick­lung mehr statt­fin­det. Vor­her und Nach­her wer­den bei Pave­se nicht mehr strikt getrennt, Vor- und Rück­blen­den fin­den sich in gros­ser Zahl: die Zeit wird «räum­lich», geschlossen. 

Eine Eigen­art von Pave­ses Roma­nen liegt dar­in, dass die Ein­bli­cke in die Psy­che der Per­so­nen dem Leser nicht von einem Erzäh­ler ver­mit­telt wer­den, son­dern dass der Autor sei­ne Figu­ren sich selbst dar­stel­len lässt. Beson­ders «Il dia­vo­lo sul­le col­li­ne» und «Tra don­ne sole» sind Dia­log-Roma­ne, wo sich die Per­so­nen in einem unab­läs­si­gen Fluss von Rede und Gegen­re­de zu erken­nen geben. Die Dia­lo­ge sind einer der «fil­mi­schen» Aspek­te die­ser Roma­ne, und es ist nicht erstaun­lich, dass Anto­nio­ni einen von ihnen, «Tra don­ne sole», zur Grund­la­ge sei­nes Films «Le ami­che» gemacht hat. Einen wei­te­ren fil­mi­schen Aspekt kann man im «schnel­len Schnitt» Pave­ses sehen: sei­ne Per­so­nen sind nie ruhig, son­dern wech­seln dau­ernd den Ort, tref­fen ein­an­der immer wie­der in neu­en Kom­bi­na­tio­nen und tren­nen sich wieder. 

Mit der Ver­öf­fent­li­chung der Tri­lo­gie «La bel­la esta­te» erreich­te Pave­se den Höhe­punkt sei­ner Berühmt­heit: für die­sen Band erhielt er 1950 den Pre­mio Stre­ga, die höchs­te lite­ra­ri­sche Aus­zeich­nung Italiens. 

Im glei­chen Jahr ver­öf­fent­lich­te Pave­se sei­nen letz­ten Roman, «La luna e i falò» («Der jun­ge Mond»). Es ist die Erzäh­lung eines Man­nes, der, nach­dem er sich in Ame­ri­ka eine Exis­tenz auf­ge­baut hat, in sein Hei­mat­dorf im Pie­mont zurück­kehrt, wo er einst als Wai­sen­kind bei einer frem­den Fami­lie auf­wuchs. Er ver­sucht sich klar­zu­wer­den über sei­nen Ursprung, sei­ne Iden­ti­tät, die er aber auch hier, in der Rück­kehr zu sei­ner Jugend, nicht fin­det. Und auch hier bleibt der ein­zi­ge fes­te Punkt die Natur mit ihren Riten, dem regel­mäs­si­gen Wech­sel der Jah­res­zei­ten, der dau­ern­den Prä­senz und Wie­der­kehr des Mon­des und der Feu­er, die jedes Jahr auf den Fel­dern ange­zün­det werden. 

Das Ende 

Wäh­rend eines Arbeits­auf­ent­hal­tes in Rom — zum Auf­bau des dor­ti­gen Büros von Ein­au­di — traf Pave­se auf die Frau, wel­che die letz­te sein soll­te: Con­stance Dow­ling, eine ame­ri­ka­ni­sche Schau­spie­le­rin. Noch ein­mal brach Pave­ses Wun­de auf, noch ein­mal ver­lieb­te er sich, bis auch die­se Hoff­nung sich ver­flüch­tig­te. Con­stance wur­de für Pave­se zum Brenn­punkt sei­ner Nie­der­la­ge; es war nicht die­se Frau, es war die Frau, die ihm mit ihr ent­glitt. An Con­stance Dow­ling rich­te­te er sei­ne letz­ten Gedich­te, meist ein­fa­che Ver­se, teils auf eng­lisch, teils auf ita­lie­nisch, dar­un­ter vor allem das Gedicht «Ver­rà la mor­te e avrà i tuoi occhi», in dem das Bild der gelieb­ten Frau zusam­men­fliesst mit dem Bild des Todes und dem Gedan­ken an den Selbst­mord, das «absur­de Laster»: 

Ver­rà la mor­te e avrà i tuoi occhi –
ques­ta mor­te che ci accom­pa­gna
dal mat­ti­no alla sera, inson­ne,
sor­da, come un vec­chio rimor­so 
o un vizio assurdo. (…)

Der Tod wird kom­men und wird dei­ne Augen haben – 
die­ser Tod, der uns beglei­tet
vom Mor­gen bis zum Abend, schlaf­los, 
taub, wie ein alter Gewis­sens­biss
oder ein absur­des Laster. (…)

Am 26. August 1950, einem Sams­tag, ver­liess Pave­se die Woh­nung sei­ner Schwes­ter, unter dem Vor­wand, das Wochen­en­de auf dem Land ver­brin­gen zu wol­len. Er durch­quer­te eini­ge Stras­sen und stieg in einem Hotel ab; am Abend des 27. August fand ihn dort ein Kell­ner tot auf sei­nem Bett liegen. 

Der Abschied 

In einem Abschieds­brief an sei­nen Freund Davi­de Lajo­lo schrieb Pavese:

«Da man über mei­ne Lie­ben von den Alpen bis Capo Pas­se­ro redet, sage ich dir nur, dass ich, wie Cor­tez, die Schif­fe hin­ter mit ver­brannt habe. Ich weiss nicht, ob ich den Schatz des Mon­te­zu­ma fin­den wer­de, aber ich weiss, dass auf der Hoch­ebe­ne von Tenoch­ti­tlán Men­schen­op­fer dar­ge­bracht wer­den. Seit Jah­ren dach­te ich nicht mehr an die­se Din­ge, ich schrieb. Jetzt wer­de ich nicht mehr schreiben.» 

Auch das Tage­buch, das Ein­blick gibt in die qual­vol­len letz­ten Wochen und Tage Pave­ses, schliesst mit einer Absa­ge an das Schrei­ben, die gleich­be­deu­tend ist mit der Absa­ge an das Leben. Pave­ses letz­te Ein­tra­gun­gen lauten: 

«All das macht Ekel. Nicht Wor­te. Eine Ges­te. Ich wer­de nicht mehr schreiben.»


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